„Bitte geben Sie mir die Spritze....“
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Chancen und Herausforderungen der Palliativmedizin
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Frau L. Ist 59 Jahre alt. Nach jahrelanger Brustkrebskrankheit ist sie nicht mehr in der Lage, sich allein zu Hause zu versorgen: Die Atemnot bei kleinsten Anstrengungen, die körperliche Schwäche und Schwellungen des linken Armes haben ihren Bewegungsradius auf das eigene Bett begrenzt. Pflegedienst und behandelnde Ärzte sind erleichtert, als die alleinstehende Frau dem Umzug in das stationäre Hospiz zustimmt – ein Schritt, den sie immer wieder hinausgezögert hatte. Bei der Visite des ambulanten Palliativteams im Hospiz sind die Pflegekräfte betrübt: Ihre Hilfsangebote werden nicht angenommen, Medikamente gegen Schmerzen und Atemnot nicht regelmäßig eingenommen. Stattdessen verlangt sie nach der „Spritze“. Ich setze mich an ihr Bett.
Wir sprechen über das Leben mit Krankheit, über ihre erwachsenen Kinder, ihren Wunsch, nicht mehr weiterzuleben. Sie benennt die Angst vor der zunehmenden Hilflosigkeit, am Lebensende nicht mehr selbst bestimmen zu können. „Die Medikamente machen die Seele nur müde, aber erleichtern sie nicht“, beschreibt sie ihre Situation.
Ich spreche mit ihr über palliative Behandlungsmöglichkeiten, auch über die palliative Sedierung als letzten Ausweg: Das Bewusstsein wird gedämpft, eine Kommunikation ist nur eingeschränkt möglich, das Zeitgefühl schwindet, die Krankheitssymptome werden nicht mehr wahrgenommen, bis der Tod eintritt. Beim nächsten Besuch berichten die Pflegenden: Frau L. Sei viel entspannter, seitdem sie von der Möglichkeit der palliativen Sedierung weiß.
Seit der Gesundheitsreform 2007 hat jeder Mensch in Deutschland Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Schwerstkranke und Sterbende werden von speziell ausgebildeten Ärzten und Pflegekräften in der häuslichen Umgebung (oder im Pflegeheim oder Hospiz) gemeinsam mit den Hausärzten unterstützt, damit sie ihre letzte Lebensphase mit guter Symptomkontrolle und Sicherheit der ständigen Erreichbarkeit in der gewohnten Umgebung verbringen können.
Den Wunsch nach Selbstbestimmung über das eigene Lebensende äußern autarke Persönlichkeiten: So, wie sie ihr Leben lang bestimmen konnten, wollen sie auch über ihr Lebensende bestimmen. Andere Patienten haben bei Angehörigen ein qualvolles Sterben miterleben müssen und äußern: „So möchte ich einmal nicht sterben“.
Ich verstehe die Anfrage nach der „Spritze“ an mich als Arzt zunächst allgemein: Nimm meine Ängste und Sorgen ernst, habe Zeit für mich in meiner Lebens-/ Sterbephase, tu doch etwas für mich! Es ist eine Gelegenheit, mit dem Patienten in ernste Gespräche einzusteigen.
Zunächst ist zu prüfen: Ist es eine depressive Stimmungsschwankung, von der er sich wieder distanzieren kann? Folgende Punkte sollten dabei geklärt werden:
a) Lehnt der Patient generell lebensverlängernde Maßnahmen ab oder
b) bestimmte Behandlungen, die in seiner Krankheitsphase keinen Sinn mehr ergeben?
c) Wünscht er eine stärkere Linderung seiner Symptome, auch unter Inkaufnahme einer Lebensverkürzung?
d) Fordert er ärztliche Unterstützung bei der aktiven Beendigung seines Lebens?
e) Will er selbst seinem Leben ein Ende setzen, so er dazu in der Lage ist?
Wenn wir zusagen: Ich kümmere mich um dich, um deine Beschwerden, deine Ängste, um die herannahende Sterbephase, dann ist das „Wie“ sekundär. Wichtiger ist die glaubhafte Zusage der menschlichen und medizinischen Begleitung auf der letzten Lebensstrecke. Sie erfordert eine flexible Anpassung, rasches Reagieren auf die aktuellen Nöte und Bedürfnisse. „Zeit zum Aufschieben“ gibt es nicht.
Für die ersten zwei genannten Möglichkeiten ist die juristische Sachlage spätestens seit 2009 eindeutig: Eine Behandlung gegen den Willen des Patienten ist Körperverletzung, selbst wenn eine eindeutige medizinische Indikation besteht.
Voraussetzung ist die Einsichtsfähigkeit des Patienten: Er muss die Konsequenz seiner Entscheidung verstehen. Schwierigkeiten ergeben sich bei Depression, aktiver Psychose oder dementieller Entwicklung.
Fall b) ist ein Aufruf an die behandelnden Ärzte, über die Ziele der medizinischen Maßnahmen zu reflektieren: Ist das Behandlungsziel noch realistisch? Was muten wir dem Patienten bei Fortsetzung der Maßnahmen zu? Behandeln wir (noch) im geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Patienten – oder dürfen wir ihn „sterben lassen“? Hilfreich kann eine Beratung im Team mit den Pflegenden und/oder dem Hausarzt sein. In vielen Kliniken gibt es die Beratung durch ein klinisches Ethikkomitee.
Die Möglichkeit c) wurde früher die „indirekte Sterbehilfe“ genannt: Eine Behandlung dient der Linderung schwerer Symptome, als Nebenwirkung ist ein eventuell früheres Ableben des Patienten aber nicht auszuschließen.
Da die Maßnahme keinesfalls als „Hilfe zum Sterben“ geplant ist, soll nur noch von „Leidenslinderung“ oder „Symptomkontrolle“ gesprochen werden. In der Reihenfolge der Maßnahmen setzt der Palliativmediziner die Dauersedierung als ultimo ratio ein.
Die Variante d) ist der eigentliche Wunsch nach der Giftspritze: der ärztlich assistierte Suizid.
Was in Holland, Belgien und zwei US-Staaten unter bestimmten Bedingungen gesetzlich erlaubt ist, ist in Deutschland (noch) vom Gesetzgeber im §216 StGB verboten: Die aktive Tötungstat des Arztes wird mit Freiheitsentzug bestraft. Die Beihilfe zum Suizid ist dagegen bisher straffrei: Der Arzt stellt die Mittel zur Verfügung, Ausführender ist der Patient selbst.
Der Gesetzgeber berät derzeit über ein neues Gesetz, das laut Ankündigung des Gesundheitsministers jede organisierte „Hilfe zum Ableben“ unter Strafe stellen soll. Dennoch besteht die Gefahr, dass damit automatisch die nicht organisierte, „altruistische“ Beihilfe zum Ableben als „erlaubt“ aufgewertet würde.
Ein anderes Beispiel aus meinem Alltag: Der 68-jährige Patient Herr P. Kommt wegen Rückenschmerzen durch Wirbelkörpereinbrüche in unsere Klinik. Innerhalb weniger Tage wird die Diagnose fortgeschrittener Knochenmarkkrebs gestellt (Plasmozytom). Die Schmerztherapie ist aufwendig und verlangt eine kontinuierliche intravenöse Morphinmedikation. Eine Chemotherapie wird begonnen, Bestrahlungen der schmerzenden Knochen sind geplant, für 2014 eine Stammzellentransplantation. In einer Nacht durchtrennt Herr P. Mit einer Schere den Infusionsschlauch. Zuvor bettlägerig, steht er am offenen Fenster. Mit Medikamenten wird Herr P. sediert. Die hinzugezogene Psychiaterin stellt Suizidgefährdung fest und empfiehlt die Zwangseinweisung, ergänzt aber: Wegen der notwendigen Schmerztherapie soll die weitere Behandlung möglichst in der Onkologie stattfinden.
Ich frage Herrn P., ob ich mich an sein Bett setzen dürfe. Er bejaht. Meine Fragen beantwortet er mühsam konzentriert. Als nüchterner Bauingenieur weiß er sicher: Das hat doch alles keinen Zweck, er kommt nicht mehr auf die Beine! Er hat seit Nächten nicht mehr geschlafen. Daraufhin biete ich ihm eine Sedierung für die nächsten 36 Stunden an – er nimmt mein Angebot an. Außer der Schmerztherapie erlaubt er keine weitere Behandlung: keine künstliche Ernährung, keinen Blasenkatheter, nur Pampers. Wir lassen ihn nach 36 Stunden aus der Sedierung wieder erwachen in der Hoffnung, dass der Schlaf seine Nerven gestärkt hat. Fehlanzeige: Mit der Klinge eines Einmalrasierers ritzt er sich beide Unterarme auf und durchtrennt erneut den Infusionsschlauch. Wir müssen die Sedierung umgehend fortsetzen.
Wenige Tage später wird die Atmung schwerer, Husten mit eitrigem Auswurf zeigt einen Infekt der Atemwege, an dem er verstirbt. Im Gespräch mit seiner Schwester, der einzigen Angehörigen, und einem früheren Mitpatienten kristallisiert sich heraus, dass ein Suizid seit Wochen durchdacht war.
Nach dieser Behandlung kommen Schuldgefühle auf: Ich bin vom Patienten zu einer Behandlung genötigt worden, die dem ärztlichen Prinzip, Leben zu erhalten, zuwiderläuft! Das Dilemma, den Willen des Patienten respektieren zu müssen und ihn gleichzeitig vor sich selbst zu schützen, lässt Ohnmachtsgefühle aufkommen. In einer späteren Teamsupervision kam eine hilfreiche Erklärung: Es ist leichter, sich bewusst schuldig zu fühlen als unbewusst ohnmächtig.
Aber es gibt auch andere Fälle: Die 76-jährige Frau S. leidet an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Nach Monaten der Chemotherapie kommt es zum Verschluss des Magenausgangs. Jede Form der Nahrungszufuhr führt zum prompten Erbrechen. Mit künstlicher Ernährung lässt sich der geschwächte Zustand von Frau S. stabilisieren. Ihr Wunsch, nach Hause verlegt zu werden, führt zum Familienkonflikt: Der gleichaltrige Ehemann fühlt sich überfordert, die Kinder berichten, in Vollzeit berufstätig zu sein, der finanzielle Rahmen sei sehr eng. Frau S., die bisher in der Familie das Sagen hatte, ist verzweifelt. Sie verlangt nach der „Spritze“.
Bei der Visite frage ich sie, ob auch die intravenöse Ernährung beendet werden soll. Sie blickt mich irritiert an. „Ach, Sie meinen den weißen Beutel? Nein, der muss weiterlaufen. Ich kann doch nicht verhungern!“ In weiteren Gesprächen lässt sie sich umstimmen: Wir dürfen die Aufnahme ins Hospiz beantragen. Die Zusage, dass damit keine weiteren Kosten für die Familie anfallen und ein schöner Bildband vom Hospiz haben Frau S. überzeugt. Von der „Spritze“ war keine Rede mehr.
Die Begleitung der Menschen an ihrem Lebensende und besonders derer, die nach der „Spritze“ fragen, ist eine große Herausforderung: Die Sinnfrage bei Krankheit, Sterben und Tod, die Anfrage an die eigene Endlichkeit – sie trifft mich besonders bei jüngeren oder gleichaltrigen Patienten und zeigt mir die Begrenztheit meiner Möglichkeiten: Habe ich ausreichend Zeit (und Kraft) für diese Begleitung? Soll ich (allein) für den Patienten erreichbar sein? Andererseits lerne ich wieder neu den Wert des Lebens schätzen.
Ich lerne von Patienten, die ihr Leben in Frieden „voll“-enden. Ich werde dankbar für die Möglichkeiten der Palliativmedizin. Ich schätze mehr die Lebenszeit, besonders die freie Zeit, die mir und meiner Familien geschenkt wird.