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Weltanschauungen
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Widersprechen sich Glaube und Vernunft?

Mit welcher Weltanschauung gehen wir durch das Leben?

Überlegen wir zuerst, warum jemand diese Frage stellt.


Variante 1: Vielleicht glaubt er, dass es zwei Klassen menschlichen Wissens gibt:
1. Klasse ist wissenschaftlich Abgesichertes, eben "Wissen".
2. Klasse ist Glaube, also Dinge, die man vorgesetzt bekommt und ohne eine kritische Untersuchung eben bloß "glaubt".


Variante 2: Dieser Frager kehrt die Reihenfolge um:
1. Glaube ist tieferes, echteres, womöglich göttlich gegebenes Wissen, viel höher als
2. menschliches Wissen, das als höchste Instanz nur die begrenzte, fehlerhafte menschliche Vernunft hat. Wie Descartes - der mit dem "Ich denke, also bin ich" - mal schrieb: "Alle Wissenschaft ist nichts anderes als die menschliche Weisheit ... auf wie viele verschiedene Gegenstände sie auch angewendet sein mag.“ (Regulae ad directionem ingenii I AT X, 1701 (posthum))


Ich halte Wissenschaft inklusive der Naturwissenschaft für eine hervorragende, ja die beste Quelle für Wissen halte, wenn es um die Bereiche geht, wofür diese Wissenschaften erfunden wurden. Da ich selbst Naturwissenschaftler bin, überrascht diese Aussage sicher nicht.


Alle Naturwissenschaft und Mathematik beruhen auf unbeweisbaren Grundannahmen. Man nennt diese Grundannahmen manchmal Axiome. Man kann sie wissenschaftlich nicht beweisen, aber wissenschaftliches Arbeiten auf ihrer Basis funktioniert unglaublich gut im Sinne von Naturverständnis und vor allem Naturbeherrschung.


Wissenschaft baut also auf unbeweisbaren Gegebenheiten auf. Immer wieder überraschend, oder? Unbeweisbare. Gegebenheiten. Unbeweisbares, das man also glaubt (nicht beweist), ist der Boden, auf dem Wissenschaft gedanklich steht. Stehen muss, damit das Denken und Handeln nicht hohl oder bodenlos ist. "Glaube" = unbeweisbare Inhalte ist hier kein Lückenbüßer, sondern die Grundlage. Dass man das Universum rational verstehen kann, ist eine solche Grundannahme. Man kann das nicht beweisen, aber man kann ohne das auch nichts anderes beweisen.


Wie ist es nun mit dem "Glauben" im Zusammenhang mit dem anderen G-Wort? Erstens anders. Zweitens ähnlich. Und zwar:


Erstens ist Glaube im Sinne von Vertrauen zu verstehen. Bei physikalischen Beziehungen von – sagen wir: – einem Redoxpotential und einer Konzentration ist das nicht die passende Kategorie. Aber zwischen Menschen ist der Satz "Ich glaube (vertraue) Dir" umfassender, aber nicht unvernünftiger oder unwissender als der Satz: "Ich weiß." "Ich weiß Dir" – wie "Ich glaube Dir" kann man gar nicht formulieren. Das Vertrauen ist oft wissensbasiert, geht aber weiter. Glaube nimmt Wissen in eine Beziehung hinein. Hier erfassen wir eine wichtige Bedeutung des Glaubens, wie ich ihn als Christ habe. Es geht um eine interpersonale Beziehung, nämlich zu Gott und zu anderen Menschen. Zwischen Personen wird es nie – zum Glück! – zu einem vollständigen "Wissen" kommen in dem Sinne, dass materiell und mechanistisch alles bekannt sei. Es wäre ja vollkommen irrational zu glauben, dass eine Liebesbeziehung durch naturwissenschaftlich erfassbare Vorgänge vollständig beschrieben oder gar erlebt sei.


Glaube hat zweitens nicht nur ein Gegenüber, sondern auch Inhalte. Diese Bedeutung von Glauben ist dem Wissen in der Wissenschaft ähnlich. Wirklich! Denn: Glaube hat Inhalte, und für die Inhalte gibt es Begründungen, zum Beispiel in Form von Zeugen. Und es gibt Grundannahmen, die nicht beweisbar sind. Die Grundannahmen sind teilweise dieselben wie in der Wissenschaft (z.B. dass Menschen mit Bewusstsein ausgestattet und damit erkenntnisfähig sind). Glaubensinhalte beziehen sich aber auch auf Gebiete, die der wissenschaftlichen Methodik nicht zugänglich sind. Deswegen sind diese Gebiete nicht automatisch unrealistisch. Das ist rational zu prüfen. Typischer, aber nicht ausschließlicher Inhalt von Glauben: Dinge, die ich und die meisten Menschen so noch nie erlebt haben.


Wissenschaft hat Gründe und Inhalte. Glaube auch. Konstruktiver Zweifel gehört bei Wissenschaft und Glaube unbedingt dazu. Er gehört dazu, weil wir Menschen einen Verstand bekommen haben, der Gründe abwägt. Die Gründe zum Zweifeln und die Gründe zum Glauben werden beide von Lukas behandelt, wenn er schildert, wie das mit Jesus war. Es lohnt sich, selber zu erforschen, warum Lukas und Milliarden von Menschen seitdem die vernünftigen Gründe für stark genug halten, die einmaligen Ereignisse um die einmalige Person Jesus für glaubwürdig zu halten.


Und warum wir dann auch noch vernünftig finden, das eigene Leben und Schicksal mit dem von Jesus in Verbindung zu bringen! Oder eigentlich: In Verbindung bringen zu lassen. Denn kein Mensch kann Gott zwingen, sich ihm zu zeigen. Wir Menschen sind Gott ja nicht ebenbürtig. Wir können ihn mit unserer Vernunft und unserem Wissen nicht beeindrucken. Wir können aber den Weg zu Gott prüfen und ausprobieren, von dem im Lukasevangelium die Rede ist. Und hoffen und bitten, dass Gott uns entgegenkommt. Ich zitiere aus dem Lukasevangelium - Kapitel 10, wenn Sie den Zusammenhang lesen wollen; eine Aussage von Jesus: "Mein Vater, Herr über Himmel und Erde! Ich danke dir, dass du die Wahrheit vor den Klugen und Gebildeten verbirgst und sie den Unwissenden enthüllst." Man sollte das Lukasevangelium mit eingeschaltetem Verstand lesen, am besten zusammen mit einem vernünftigen Christ unseres Vertrauens. Aber bitte nicht mit dem Glauben, alles besser zu wissen. Dünkel und Besserwisserei sind hinderlich für jede Art von Verständnis. Glaube und Wissensdurst sind gut dafür.

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