Der Islam als vielschichtige Anfrage an Christen
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Emotional diskutiert Europa seit einigen Jahren über den Islam. Oft pendeln die Beiträge zwischen Verharmlosung und Beschwichtigung auf der einen und Panikmache und Pauschalverurteilungen auf der anderen Seite. Dieser Artikel möchte zu einem mehrdimensionalen Blick auf den Islam ermutigen den Islam als rechtliche und politische Herausforderung deuten, aber auch als Anfrage an unser geistliches Leben und unser ethisches und theologisches Profil. Vor allem will der Artikel Mut machen, einer falsch verstandenen Toleranz, nach der alles gleich wahr und gleich gültig ist, zu widerstehen und das Evangelium gerade im Vergleich neu in seiner Einzigartigkeit zu entdecken. Zunächst aber gilt es, sich die Grundlagen des Islam und die besondere Struktur und Argumentation des Korans bewusst zu machen.
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Die Grundlagen des islamischen Glaubens
Der arabische Begriff „Islam“ bedeutet nicht – wie häufig zu hören und zu lesen – Frieden, sondern Hingabe bzw. Unterwerfung. Das heißt, dass der Mensch sich in Gottesfurcht und Dankbarkeit mit seinem ganzen Leben dem Willen seines allmächtigen Schöpfers und Erhalters unterwirft – was besonders deutlich wird in deKoran,n rituellen Niederwerfungen im Rahmen des fünfmal täglichen Gebets.
Im Zentrum des islamischen Glaubens steht die Überzeugung von der „Einsheit Allahs“ ( tauhid) (siehe u.a. Sure 112), nach der niemand und nichts ihm gleichgestellt werden darf. Darüber hinaus beschreibt der Koran Allah als den Richter, zu dem jeder Mensch eines Tages zurückkehrt und vor dem er Rechenschaft ablegen muss.
Die Gläubigen, die ihre rituellen und sozialen Pflichten gewissenhaft erfüllt haben (neben dem Beten vor allem die Almosen, das Fasten im Ramadan und die Pilgerfahrt nach Mekka), können auf den Eingang ins Paradies hoffen. Dagegen drohen zahlreiche Verse den wankelmütigen und frevelhaften Muslimen und vor allem den Ungläubigen eine ewige und schmerzhafte Bestrafung in der Hölle an. Letzte und absolute Heilsgewissheit gibt es hier nicht (siehe z.B. das „vielleicht“ in Sure 9,102), lediglich die Hoffnung auf Gottes Gnade und Erbarmen.
Es ist primär die Furcht vor dem strafenden Gott (und nicht so sehr die Dankbarkeit über erfahrene Vergebung), die den Menschen anhalten soll, den Einflüsterungen des Teufels und seinen eigenen Begierden und Lüsten zu widerstehen. Die islamische Überlieferung spricht von zwei Engeln, die die Funktion von Buchführern wahrnehmen und gute und schlechte Werke genauestens für den Tag des Gerichts festhalten, an dem menschliche Verdienste und Versäumnisse gegeneinander abgewogen werden (siehe u.a. Sure 7,8f.). Große Angst haben viele gläubige Muslime auch vor zwei Verhör-Engeln, die nach islamischer Überlieferung den Verstorbenen bereits im Grab schmerzhaften Anfechtungen und Befragungen unterziehen.
Die Struktur und Argumentation des Koran
Die wichtigste Quelle des Islam ist der Koran, den Muslime als das buchstäblich von Gott an Muhammad offenbarte Wort verstehen – durch den Erzengel Gabriel und in arabischer Sprache. Zugleich betrachtet man den arabischen Koran in seiner behaupteten Unnachahmlichkeit als einziges – oder zumindest größtes – Beglaubigungswunder Muhammads. Folglich hat bis heute die Rezitation des arabischen Wortlauts in Moscheen und Koranschulen eine weitaus größere Bedeutung als die inhaltliche Reflexion in der eigenen Muttersprache. Aus orthodoxer Sicht kann es und darf es daher auch keine Übersetzungen des Koran geben lediglich Annäherungen an seine ungefähre Bedeutung.
Für den christlichen Leser ist es gewöhnungsbedürftig, dass der Koran weder zeitlich noch inhaltlich bzw. thematisch gegliedert ist. Der Koran adaptiert zahlreiche biblische Personen und Begebenheiten, wie etwa Adam, Noah, Abraham, Mose, David und Jesus beziehungsweise die Schöpfung, den Sündenfall und die Sintflut. Dies geschieht allerdings in einer islamisierten Form und nicht selten als eine Art Spiegel für Muhammads eigene Erfahrungen.
Überhaupt ist der Koran ein eher geschichtsloses Werk. Erzväter, Könige und Propheten des Alten Testaments werden aus ihrem zeitlichen und örtlichen und vor allem aus ihrem heilsgeschichtlichen Kontext herausgelöst. Teilweise geraten die Zusammenhänge wohl auch deshalb durcheinander, weil Muhammad lediglich mündlich und fragmentarisch Kenntnis von der Bibel erhalten und darüber hinaus auch Inhalte aus rabbinischer Kommentarliteratur und apokryphen Schriften verarbeitet hat. Muslime zählen zwar die Thora, die Psalmen und das Evangelium (injil) zu den Büchern Allahs und die Christen und Juden zu den Buchbesitzern, gehen aber gleichzeitig mit Blick auf einige spätere Koranverse davon aus, dass die Bibel im Laufe der Zeit verfälscht und insbesondere Ankündigungen Muhammads gestrichen worden seien.
Der islamische Überlegenheits- und Herrschaftsanspruch
Während sich Muhammad zu Beginn seiner Verkündigung in Mekka hauptsächlich gegen die arabischen Polytheisten richtet und die Gemeinsamkeiten mit den so genannten Buchbesitzern (Juden und Christen) betont, wendet sich das Blatt mit seiner Auswanderung nach Medina, wo er nicht nur zum religiösen Anführer, sondern auch zum Gesetzgeber, Richter und Feldherr der muslimischen Gemeinschaft wird.
Der Ton gegenüber den Christen und Juden, die mehrheitlich Muhammad nicht als Propheten anerkennen, verschärft sich in dieser Zeit. Die Entwicklung gipfelt schließlich in mehreren Feldzügen gegen die jüdischen Stämme von Medina, einem deutlichen Aufruf zur Abgrenzung von Juden und Christen sowie der Anordnung, die Buchbesitzer im Kampf zu unterwerfen (Suren 5,51 und 9,29). Solche und andere Verse wurden später auch zur Legitimation der frühislamischen Eroberungen herangezogen.
Der Islam erscheint in den späten Koranversen als wahre Ur- und Endreligion des Menschen, der Allah nach Sure 9,33 zum Sieg über jede andere Religion verhelfen wird. Entsprechend gilt Muhammad im Islam als „Siegel der Propheten“ (Sure 33,40). Die oben genannten biblischen Personen – vor allem Abraham – erscheinen im Koran als paradigmatische Muslime und Vorläufer Muhammads, die stets nur zur Unterwerfung unter den einen Gott aufgerufen und selbst gebetet, gefastet und die anderen rituellen und sozialen Pflichten des Islam erfüllt haben.
Eine Anfrage an unser gesellschaftspolitisches Bewusstsein
Gerade vor dem Hintergrund des politischen Erbes, das Muhammad seinen Anhängern hinterlassen hat, ist der Islam eine Anfrage an unser gesellschaftspolitisches Bewusstsein. In seinen letzten zehn Jahren in Medina verband Muhammad seine religiöse Verkündigung – in deutlichem Kontrast zu Jesus (Johannes 18,36 und Matthäus 26,52) – mit einem weltlichen Herrschaftsanspruch. Muhammads Bestimmungen zur Stellung der Frau, zum Ehe-, Erb- und Zeugenrecht und zum Umgang mit Nicht-Muslimen trugen und tragen in den Augen der Gläubigen einen göttlichen Stempel. Aufforderungen zum aufopferungsvollen Kampf (Stichwort Dschihad) für die islamische Gemeinschaft wurden mit göttlichen Paradiesversprechen verbunden. Vor allem sogenannte Islamisten und Dschihadisten beziehen sich auf dieses prophetische Vorbild und wollen zurück zum „Goldenen Zeitalter“ der frühislamischen Eroberungen.
Aber auch der Mainstream-Islam großer islamischer Institutionen, wie etwa der al-Azhar in Kairo, steht bis heute in einem deutlichen Widerspruch zu unserer Rechts- und Werteordnung. Islamische Menschenrechtserklärungen, wie die von Kairo aus dem Jahre 1990, garantieren menschliche Grundfreiheiten stets nur im Rahmen der Scharia (wörtlich „Weg zur Quelle“ und eine Art Sammelbegriff für die Gesamtheit islamischer Rechtsbestimmungen).
Damit schließen sie eine echte Gleichberechtigung von Muslimen und Nicht-Muslimen sowie Männern und Frauen aus. In den meisten islamischen Ländern werden Menschen, die sich erkennbar vom Islam ab und beispielsweise dem christlichen Glauben zuwenden, von der eigenen Familie oder staatlichen Behörden und Gerichten eingeschüchtert, verfolgt und nicht selten mit dem Tod bedroht. Gerade auch vor diesem Hintergrund ist die Behauptung, der Islam gehöre zu Deutschland, äußerst problematisch. Die großen Dachverbände hierzulande beschwören zwar nach jedem Anschlag, dass Terror und Gewalt nichts mit dem Islam zu tun haben, scheuen bisher aber eine ernsthafte theologische Auseinandersetzung mit diesem ideologischen Nährboden der Terrorgruppen. Eine solche Auseinandersetzung kann freilich sehr schmerzlich sein und wird nicht ohne einen selbstkritischen Blick auf die eigene Geschichte und die eigenen Quellen gelingen.
Christen sollten einen offenen und herzlichen Umgang mit Muslimen in ihrem Umfeld verbinden mit einem leidenschaftlichen Einsatz für die unantastbare Würde des Menschen (unabhängig von seinem Glauben) sowie für Grundrechte wie die Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit. Wer sich hier einsetzt und gut informiert Stellung bezieht, setzt sich auch für die vielen Muslime ein, die das Grundgesetz von Herzen bejahen und die politische und religiöse Unfreiheit in ihren Heimatländern zutiefst bedauern.
Eine Anfrage an unseren Lebensstil
Etwa 4,3 Millionen Muslime leben mittlerweile in Deutschland. Nicht wenige von ihnen stellen laut oder leise kritische Fragen zum westlichen Lebensstil und einem weithin liberalen und verweltlichten Christentum. Sie sind damit auch eine ganz persönliche Herausforderung für jeden Christen, der es mit seinem Glauben ernst meint. Sind wir bereit, unsere muslimischen Nachbarn und Kollegen, unseren türkischen Dönerverkäufer und unseren arabischen Friseur mit den Augen Jesu zu sehen? Als Menschen wie wir – mit Hoffnungen und Sehnsüchten, Verletzungen und Enttäuschungen, Sorgen und Ängsten, Schwächen und Fehlern?
Nach einer Studie des Amerikaners Dudley Woodberry folgen die meisten ehemaligen Muslime heute Jesus, weil sie der Lebenstil der Christen überzeugt hat – die Einheit von Reden und Handeln, von echter Liebe erfüllte Ehen und Familien, praktizierte Vergebung, selbstlose Hilfeleistungen in Katastrophengebieten.
Wo Christen mutig gegen den Strom schwimmen und gleichzeitig echt und ehrlich im Blick auf eigenes Versagen sind, werden Muslime aufhorchen. Ein solcher Lebensstil steht in erfrischendem Kontrast – sowohl zu religiösem Fanatismus und frommer Selbstgerechtigkeit als auch zu einem in der islamischen Welt weit verbreiteten Bild des Westens. Nach diesem Bild leben die meisten Menschen hierzulande nur noch für sich selbst (Stichwort Individualismus) sowie für Sex, Geld und Karriere (Stichwort Materialismus).
Gott, Glaube und die Frage nach dem ewigen Leben kommen, wenn überhaupt, nur noch in der Privatsphäre vor, in der jeder seiner eigenen Wahrheit folgt (Stichwort Relativismus). Es sind gerade auch die (gelebte) Bergpredigt sowie die großen Unterschiede zwischen Jesus und Muhammad, die viele Muslime angesichts von Terror und Gewalt im Namen des Islam nachdenklich machen.
Darüber hinaus haben viele suchende Muslime Gottes Macht in Gebetserhörungen erlebt und sind Jesus in Träumen und Visionen begegnet. Allerdings geht es dabei meistens nur um einen ersten Impuls. Dass wir dann im direkten Gespräch mit Muslimen keineswegs – im Sinne falsch verstandener Kontextualisierung – die Gottessohnschaft Jesu und seinen stellvertretenden Tod am Kreuz ausblenden oder umschiffen sollten, zeigt die Studie ebenfalls. Nur in der Botschaft vom Kreuz finden viele Muslime eine nie zuvor erlebte Gewissheit der Errettung und Vergebung ihrer Schuld.
Eine Anfrage an unser theologisches Profil
Auf den ersten Blick gibt es tatsächlich viele Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum. Sowohl Muslime als auch Christen glauben an einen Schöpfer, der den einzelnen Menschen gewollt und geformt hat. Damit ist man sich auch einig, dass es eine gewisse Schöpfungsordnung gibt und Gott festlegt, was gut und böse ist. Christen und Muslime glauben an ein Leben nach dem Tod und einen Tag des Gerichts, an dem sie Rechenschaft vor Gott ablegen müssen. Darüber hinaus wird heute häufig auf gemeinsame Schlüsselbegriffe wie Gnade und Barmherzigkeit verwiesen. Wer sich jedoch genauer mit den dahinter stehenden Inhalten befasst, stößt auf entscheidende Unterschiede:
1. Während der Islam keine persönliche Offenbarung Gottes kennt, ist die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus – vor allem sein Tod und seine Auferstehung – Dreh- und Angelpunkt des Evangeliums. Während der Koran die Einsheit Gottes betont und den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu als Vielgötterei verurteilt (siehe u.a. Sure 5,73), hat sich Gott nach christlicher Überzeugung als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart. Gerade weil Gott in sich bereits ein Beziehungswesen ist, verstehen Christen beispielsweise die Liebe als eine ewige Wesenseigenschaft Gottes.
2. Im Islam bezeichnet der Begriff des Glaubens vor allem die Anerkennung der alleinigen Herrschaft Gottes. In der Bibel wird der Glaube dagegen viel stärker als eine Vertrauensbeziehung zwischen Gott und Mensch beschrieben. Gott schließt einen Bund mit dem Menschen und dieser lebt fortan im Vertrauen auf Gottes Verheißungen. Während der Koran jede Stellvertretung ablehnt (Sure 35,18) und die Kreuzigung Jesu leugnet (Sure 4,157), kann beispielsweise der Apostel Johannes mit Blick auf das vollkommene Opfer Jesu den Christen in Kleinasien mit Gewissheit schreiben: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von jeder Ungerechtigkeit“ (1. Johannes 1,9).
3. Auffällig ist auch, dass eine menschliche Prüfung Gottes im Koran ausgeschlossen (Sure 21,23) und Zweifel von islamischen Theologen in der Regel mit Unglauben und Sünde gleichgesetzt wird. Dagegen haben sowohl Hiobs Leidensgeschichte und die Klagepsalmen als auch der zweifelnde Johannes (der Täufer) (Matthäus 11,2-6) und der skeptische Thomas (Johannes 20,24-29) Eingang in die Bibel gefunden.
4. Besonders gravierend sind die Unterschiede im Sündenverständnis. Im Koran geht es dabei lediglich um einzelne Taten, durch die der Mensch gegen sich selbst frevelt (z.B. Sure 7,23) – keinesfalls aber Gott persönlich trifft oder verletzt. Dagegen betet David in seinem bekannten Bußpsalm: „Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt und getan, was böse ist in deinen Augen“ (Psalm 51,6a). Der Sündenfall hat in der Bibel sehr viel dramatischere Konsequenzen. Der Mensch gilt seitdem als verloren und muss wiedergefunden, gerettet und versöhnt werden mit Gott. Auch David und Petrus werden schonungslos mit all ihren Licht- und Schattenseiten dargestellt. Während der Mensch im Islam primär ein Informationsdefizit hat und als schwaches Geschöpf lediglich der Rechtleitung und Vergebung einzelner Sünden bedarf, braucht es im Christentum vor allem Vergebung, Rettung von außen und einen Erlöser von oben.
5. Jesus erscheint im Koran lediglich als ein großer – wenn auch aufgrund der Jungfrauengeburt, seiner Sündlosigkeit und seiner gewaltigen Wunder außergewöhnlicher – Prophet und Vorläufer und Ankündiger Muhammads. In der Bibel dagegen offenbart sich Gott selbst in Christus, so dass dieser von sich behaupten kann: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Johannes 14,9). Als leidender Gottesknecht am Kreuz (Jesaja 53) ist er für Christen nicht nur ein Prophet unter vielen, sondern der verheißene Messias und der einzige Mittler zwischen Gott und Mensch (1. Timotheus 2,5).
6. Der Mensch kommt – wie der Koran in Sure 19,93 darlegt – ausschließlich als Diener „zum Barmherzigen“. Dagegen heißt es in Johannes 1,12: „so viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben“. Auch der Apostel Paulus, der sich zu Beginn einiger Briefe selbst als Knecht Gottes oder Knecht Jesus Christi bezeichnet, hält im Römerbrief fest: „Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, wieder zur Furcht, sondern einen Geist der Sohnschaft habt ihr empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Römer 8,15).
Zusammenfassend könnte man formulieren, dass es im Islam um die Unterwerfung (islam) des „alten“ Menschen geht, während das Evangelium in der Bibel die frohe Botschaft von der Erlösung und Neuschaffung des „alten“ Menschen durch seine Versöhnung mit Gott darstellt.
Die Liebe Gottes – Aktion oder Reaktion? Ganz deutlich werden die Unterschiede beim Begriff der Liebe Gottes. So heißt es beispielsweise in Sure 3,31: „Sag: Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir [Muhammad], damit (auch) Gott euch liebt und euch eure Schuld vergibt! Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben.“ Der evangelische Theologe Heiko Krimmer hat ein solches Denken einmal treffend als „um-zu-Ethik“ beschrieben, nach der ich etwas tue, um mir Gottes Gunst zu erwerben.
Dem steht ihm zufolge die christliche „weil-Ethik“ gegenüber, nach der Christen in der Liebe wandeln, weil sie zuvor bereits von Gott geliebt worden sind. Diese Ethik basiert darauf, dass Gott seine Liebe zu uns dadurch bewiesen hat, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren (Römer 6,8). Paulus kann daher die Gläubigen in Ephesus ermuntern, einander zu vergeben, „so wie auch Christus euch [zuvor] vergeben hat“ (Epheser 4,32). Ein genauerer Blick hinter die äußere Schale des Begriffs offenbart also einen völlig anderen Inhalt.
Zur Aktualität eines Gleichnisses
Der Orientale liebt seit jeher Geschichten. Hier bietet sich vor allem das Gleichnis vom verlorenen Sohn an (Lukas 15). Jesus erzählt es seinen Jüngern, um ihnen die Liebe ihres himmlischen Vaters vor Augen zu malen. Der jüngere Sohn verprasst das Erbe seines Vaters in der Ferne und landet bei seiner Suche nach der absoluten Freiheit schließlich am Schweinetrog. Dort denkt er um und dort dreht er sich um. Das Erstaunliche ist nun, dass der Vater seinen verlorenen Sohn bereits mit sehnsüchtigen Blicken und offenen Armen erwartet. Während der Sohn lediglich die Hoffnung hegte, zukünftig als Knecht im Hause leben und arbeiten zu dürfen, nimmt ihn sein Vater wieder als sein Kind auf, schenkt ihm neue Kleider und feiert zur Freude des Tages ein großes Fest für seinen wiedergefundenen Sohn.
Im Blick auf den Islam ist nun vor allem die Reaktion des älteren Bruders interessant. Er weiß sehr wohl um die weltlichen Versuchungen und den Schweinetrog und er ist keinesfalls leichtfertig mit dem umgegangen, was ihm sein Vater anvertraut hat. Vielleicht fällt es ihm gerade deshalb schwer, sich über die Heimkehr seines Bruders zu freuen. Er selbst hat zwar die ganze Zeit in der Nähe des Vaters gelebt, ihn aber nie als Vater, sondern stets nur als Herrn wahrgenommen. Ihm ist der Blick auf die unermesslich große Gnade des himmlischen Vaters verstellt. Er hat seine Beziehung zu Gott vor allem über das definiert, was er selbst geleistet und sein Bruder versäumt hat. Religiöse Menschen wie er, die sich Gott nur als Befehlshaber vorstellen können und davon ausgehen, dass sie sich die Liebe des Vaters erst durch eigenes Bemühen verdienen müssen, verzweifeln häufig am Evangelium. Denn das besagt, dass Gott uns in Christus schon geliebt und entgegengelaufen ist, als wir noch ganz und gar Sünder mit dreckigen und stinkenden Klamotten waren und rein gar nichts Liebens- und Lobenswertes vorweisen konnten.
Europa befindet sich am Scheideweg. Viele Menschen leugnen heute die Existenz des Vaterhauses und dekorieren stattdessen ihren Schweinetrog. Die Unterscheidung von Gut und Böse scheint in Europa immer mehr zu einer Frage des Geschmacks oder der jeweiligen Mehrheit zu werden. Islamische Fernseh- und Straßenprediger nehmen dieses geistliche Vakuum wahr und träumen bereits von der islamischen Eroberung des dekadenten Westens. Und die bekennenden Christen? Haben sich viel zu sehr zurückgezogen oder selbst die Position des älteren Bruders eingenommen. Sie sind gerade jetzt gefragt, mutig und unerschrocken, biblisch fundiert und durchdacht, verständlich und leidenschaftlich das Evangelium neu zur Sprache zu bringen.