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Weltanschauungen
Text 20 Min.

Verschwörung oder Wahrheit?

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Dem Phänomen Verschwörungstheorie auf der Spur

Verschwörungstheorien wachsen rasant!“ wurdeseit Beginn der Coronakrise Alarm geschlagen.„Deutschland, Land der Dichter, Denker und Verschwörungstheoretiker“ titelte der Focus im September. „Erschreckend“ seien die „gefährlichen Massen“ bei den Berliner Corona-Demonstrationen. Diese waren im April von linken Aktivistenangestoßen worden und hatten sich später zum Anziehungspunkt für eine bunte Szene von Esoterikern, Grünen, politischen Extremisten und Verschwörungsgläubigen entwickelt. Die angespannte Stimmung wurde politisch instrumentalisiert und schlug bisweilen in Gewalt um: linksextreme Schläger griffen in Berlin ein Fernsehteaman, in Stuttgart überfielen sie drei Coronademonstranten und verletzten zwei so schwer, dass einer nach wochenlangem Koma mit bleibenden Hirnschäden erwachte. Der Berliner Innensenator Andreas Geisel wollte die regierungskritischen Versammlungen verbieten lassen, weil dort auch „rechtes Gedankengut“ propagiert werde – zwei Gerichte mussten ihn an die Verfassung erinnern. Wenn die Nerven derart blank liegen, ist es Zeit für einen nüchterneren Blick. Verschwörungstheorien sind in aller Munde. Jedoch, so denken wir, nur in den Köpfen der anderen. Das stimmt nur bedingt, wie ich zeigen will.

Das Phänomen
Eine Verschwörungstheorie (VT) ist eine Annahme, der zufolge sich mächtige Personen oder Organisationen im Geheimen verständigen, um illegale, illegitime Ziele unter Täuschung der Öffentlichkeit zu erreichen. Einige Beispiele: Die amerikanische Regierung ließ die Anschläge vom 11. September 2001 wissentlich geschehen. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ zeigen, wie das „Weltjudentum“ die Fäden des politisch-wirtschaftlichen Geschehens in der Hand hat. Die amerikanische Regierung hat hunderte schwarze Syphiliskranke 40 Jahre lang ohne ärztliche Behandlung gelassen, um den Verlauf der Krankheit bis zum Tod zu studieren. Die Kondensstreifen von Flugzeugen sind in Wirklichkeit „Chemtrails“, Stoffe, die unsere Gehirne beeinflussbar machen. Corona wurde von Bill Gates in die Welt gesetzt, um mit Impfungen Profit zu machen. Politiker und Magnaten halten Kinder gefangen, um aus ihrem Blut ein Verjüngungsmittel zu gewinnen (QAnon).

Fragen Sie sich bei obiger Kuriositätensammlung, wie jemand so etwas glauben könne? Dann haben sie hoffentlich die echte Verschwörung in dieser Liste erkannt. In der sogenannten „Tuskegee-Studie“ studierten amerikanische Ärzte von 1932–1972 schwarze Syphiliskranke ohne Behandlung, auch nachdem die Entdeckung des Penicillin die Krankheit heilbar gemacht hatte. Verschwörungstheorien entstehen aus Misstrauen. Und dieses ist manchmal gerechtfertigt, selbst gegenüber demokratischen Regierungen. Misstrauen gehört sogar zur Demokratie – darum gibt es Gewaltenteilung und Rechnungsprüfungshöfe. Das richtige Maß ist entscheidend. Das Kuriose sollte Verschwörungstheorien nicht verharmlosen – manche sind bedrohlich. Bei vielen antisemitischen Anschlägen der letzten Zeit spielen solche Theorien eine Rolle. Wer stellt sie auf? Zum Beispiel auch die Polizei, wenn sie einem Kinderpornoring auf der Spur ist. Die Journalisten, die 1972 den Watergate-Skandal aufdeckten, haben es auch gemacht.

Eine Verschwörungstheorie ist daher nicht immer komplett unvernünftig. Sie kann eine Theorie wie andere sein, die der Überprüfung harrt. Was man dagegen landläufig „Verschwörungstheorie“ nennt, wird auch als „Verschwörungsglauben“ oder „Verschwörungsphantasie“ bezeichnet. Denn gemeint sind Überzeugungen, an denen man festhält, obwohl sie sich nicht mehr im Bereich des plausibel und rational Begründbaren befinden. Typischerweise sind sie strukturell unwiderlegbar, weil jedes Gegenargument als Stärkung der Theorie und als Beleg für die Geschicklichkeit der Verschwörer integriert wird. Wenn die ganze Weltsicht nur noch aus Verschwörungen besteht, lässt sich das als „Konspirationismus“ bezeichnen – Verschwörungsdenken als Weltanschauung.

Typologie und Merkmale
Man kann systemische und einzelfallbezogene Verschwörungstheorien unter-scheiden. Die einen „erklären“ globale Zusammenhänge, Finanzmärkte, Epidemien, Armut und Reichtum. Die anderen bezweifeln die „offizielle Wahrheit“ bei konkreten Ereignissen. Einzelfall-Theorien sind die Anwendung systemischer Theorien auf den Alltag. Typische Merkmale sind:

1. Reduktion:
Bei systemischen Verschwörungstheorien werden hochkomplexe soziale Phänomene und Strukturen als Ergebnis zielgerichteten Handelns von Menschen gedeutet (Weltwirtschaft, globale Krisen, soziale Unterschiede). Die Identität der Verantwortlichen bleibt vage: das Großkapital, die Pharmaindustrie, das Finanzjudentum, das Patriarchat, bisweilen auch fiktive Größen wie Illuminaten oder Außerirdische.

2. Intention:
Hinter allen Ereignissen stehen Absichten. Das Handeln der Betreffenden verfolgt konkrete Ziele. „Cui bono?“ Weiß man, wem es nützt, weiß man, wer es verursacht hat. Wenn Ziele unklar sind, werden auch widersprüchliche Erklärungen gleichzeitig geglaubt.

3. Komplikation:
Bei Einzelfall-Verschwörungstheorien wird Komplexität nicht reduziert, sondern künstlich hergestellt. Hinter einer relativ klaren „offiziellen“ Erklärung des Geschehens wird eine komplizierte Alternativwirklichkeit postuliert und detailreich ausgestaltet. Jede offene Detailfrage wird zum Beweis gegen die gesamte Erklärung. Während systemische Verschwörungstheorien Ordnung im Chaos suchen, finden Einzelfall-VTn Chaos in der Ordnung.

4. Keine Falsifikation:
Typischerweise ist eine Verschwörungstheorie nicht falsifizierbar. Alle widersprechenden Fakten werden als Belege für Geschicklichkeit und Gefährlichkeit der Verschwörer gewertet. Ein Standarddenkfehler aller Verschwörungstheorien ist die Annahme, dass komplexe globale Abläufe das Ergebnis zielgerichteter Handlungen sein können, dass es geheimen Personengruppen gelingen könne, alle ihre Einzelinteressen widerspruchsfrei zu koordinieren, Handlungsauswirkungen in hochkomplexen Situationen vorauszusehen und dies alles über lange Zeit geheim zu halten (keine Verräter, Pannen usw.). Das widerspricht allem, was man über komplexe Systeme und über Gruppenpsychologie weiß.

Psychologie – Was macht Verschwörungstheorien attraktiv?

Im Sommer 2020 wurde der russische Dissident Alexei Nawalny vergiftet und in der Berliner Charité versorgt. In Deutschland verdächtigte man die russische Regierung, diese jedoch beschuldigte ihr deutsches Gegenüber. Wem glauben Sie? Die meisten Deutschen vermuten die Schuld in Putins Umfeld. Aber warum? Kaum einer von uns hat Wissen aus erster Hand. Der Grund liegt im größeren Vertrauen, das wir den deutschen Medien und Politikern entgegenbringen. Die Offenheit für Verschwörungsdenken hängt mit dem Vertrauen zusammen, das Menschen haben. Verschwörungstheorien sind allerdings eher ein Symptom als die Ursache abnehmenden gesellschaftlichen Vertrauens. Wo sie sich ausbreiten, sind sie daher ein gesellschaftliches Krisensignal. Denn das hohe Vertrauensniveau ist neben dem Bildungsgrad der Reichtum unserer Gesellschaft.

Soziale Faktoren, die Verschwörungstheorien fördern

Der Status als Opfer ist heute gesellschaftlich positiv besetzt und attraktiv. Allein das Gefühl, zu einer zu kurz gekommenen Gruppe zu gehören, ist als Argument in Auseinandersetzungen schlagkräftig. Die Opferrolle ist identitätsstiftend, entlastend und bisweilen finanziell lukrativ. Verschwörungsdenken bietet eine einfache Erklärung und suggeriert, man sei Opfer undurchschaubarer finsterer Mächte.

Noch wichtiger ist eine verbreitete trivialisierte Form des radikalen Sozialkonstruktivismus. Diese marxistische philosophische Schule der 1960er Jahre sagt: Es gibt keine Wirklichkeit, sondern nur interessengeleitete Wirklichkeitswahrnehmungen, geprägt durch die eigene Perspektive: Ein Fußballspiel sieht unterschiedlich aus: Es ist etwas anderes, je nachdem ob man als Zuschauer, Schiedsrichter oder asiatisches Wettkartell darauf blickt. Der Konstruktivismus lehrt eine kritische Grundhaltung gegenüber aller Wirklichkeit und allen Autoritäten. Wer behauptet etwas, wer hat ein Interesse an der Sache, wessen Wirklichkeit ist es?

Auch hier: „cui bono?“ Das Anliegen ist emanzipatorisch. Er will Menschen zu nachdenklich-kritischen Zeitgenossen machen, indem sie scheinbare Gewissheiten auf ideologische Hintergründe hin abklopfen. Anfangs auf die soziale Welt beschränkt, wird er in-zwischen sogar auf biologische Fakten angewandt.

Der französische Philosoph Bruno Latour war jahrelang ein führender Vertreter des Konstruktivismus, bis er sich 2007 fragte: Warum akzeptieren manche Menschen die wissenschaftliche Tatsache des Klimawandels nicht und behaupten, dies sei eine Erfindung der Windenergielobby? Latour kam zum Schluss, dass das konstruktivistische Denken zu weit gegangen war. Er bemerkte besorgniserregende Parallelen zum Verschwörungsdenken.

Funktionen von Verschwörungstheorien

Böten Verschwörungstheorien nur die Aussicht, als verrückt wahrgenommen und sozial geschnitten zu werden, wären sie unattraktiv. Tatsächlich aber können sie echte soziale und psychologische Funktionen für ihre Anhänger erfüllen, auch wenn sie letztlich schädlich für die Lebensbewältigung sind. Verschwörungstheorien liefern verständliche Antworten auf komplizierte Fragen. Ihre scheinbar stimmige Logik zur Welterklärung reduziert Komplexität und be-wirkt Entlastung in einer als frustrierend undurchschaubaren Welt. Mit dieser „Kontingenzbewältigung“ übernehmen Verschwörungstheorien eine religionsartige Vergewisserungsfunktion.

Die Benennung von Schuldigen (Sündenbocktheorie) fördert eine geordnete Weltsicht von Gut und Böse und ein Gemeinschaftsgefühl mit Gleichgesinnten auf der Seite des „Guten“. Verschwörungstheorien firmieren als Geheimwissen, was ihre Anhänger auf-wertet. Plötzlich ist man Eingeweihter und durchschaut, wo andere sich täuschen lassen. Persönliche Niederlagen werden durch Externalisierung erklärlich: Nicht mehr mein chaotisches Leben ist schuld an meinem ständigen Unwohlsein, sondern der Mobilfunkmast nebenan.

Wer glaubt an Verschwörungstheorien?

Jede Gesellschaft hat einen bestimmten Grundbestand an Verschwörungsdenken – wir sind nicht immer so rational wie wir meinen. Im Sommer 2020 entstand der Eindruck, Verschwörungstheorien nähmen explosionsartig zu. Darauf könnte in der Tat die starke Zunahme von „Followern“ einschlägiger Webseiten und Personen hinweisen. Das Internet verursacht Verschwörungstheorien zwar nicht, aber es verbreitet sie. Wer früher auf seinem Dorf wegen irgendeiner Verschwörungsidee belächelt wurde, findet heute hunderttausende Gleichgesinnte.

Andererseits ist die Datenlage schmal und eine Wahrnehmungsverzerrung durch mediale Aufblähung offensichtlich. Schon seit Jahrzehnten wird vor einer ständigen Zunahme von Verschwörungstheorien gewarnt. Sie heften sich schon immer an emotionale Großereignisse: Mondlandung, 11. September, Krieg, Terror, Epidemien. Das sind aber auch die Zeiten, in denen Medien emotional agieren – also auf Verschwörungstheorien schauen und Corona-Panik schüren (wie kürzlich eine Studie der Uni Passau zeigte). Es fehlt an Nüchternheit und Fakten, z.B. an Vorher-Nachher Umfragen mit identischen Fragen, die eine Zunahme quantifizieren könnten. Wenn Verschwörungsideen plötzlich massenhaft öffentlich auf Demonstrationen erscheinen, bedeutet das nicht, dass sie vorher nicht vorhanden waren. Viele, die heute an die QAnon von bluttrinkenden Politikern glauben, demonstrierten vorher gegen „Chemtrails“. Das „Wachstum“ ist auch eine Umschichtung innerhalb der Szene.

Außerdem unterscheidet sich bei vielen Umfragen, was jeweils als Verschwörungstheorie gelten soll, so dass sie nicht vergleichbar sind. Impfgegnerschaft ist irrational, aber nicht immer mit dem Glauben an die große Pharmaverschwörung verbunden. Nicht jeder Irrtum, nicht jede Wissenslücke, Dummheit oder politisch anstößige Haltung ist eine Verschwörungstheorie. Jede Verschwörungstheorienist unvernünftig, aber nicht jede Unvernunft ist eine Verschwörungstheorien. Hier geht in der Debatte vieles durcheinander. Entgegen landläufiger Annahmen sind Verschwörungstheorien nicht besonders mit einer politischen Richtung korreliert, sondern mit den jeweiligen extremen Rändern. Verschwörungstheorien scheinen in sozialen Randgruppen überdurchschnittlich stark verbreitet zu sein. Andererseits können auch Eliten und ganze Staaten betroffen sein: Die Nazis glaubten wirklich an die Verschwörung des Weltjudentums, das DDR-Regime sah überall den Klassenfeind wühlen, und selbst in den demokratischen USA war während der McCarthy-Zeit eine Weile lang niemand vor obrigkeitlicher Kommunistenjagd sicher.

Recht gerne vermuten wir auch Böses, wenn eine vernünftigere Erklärung unangenehm ist. „Die Prüfung lief schlecht, weil der Professor mich nicht mochte.“ Eine Annahme verborgener böser Motive. Sie ist ich-stärkend, sie verschafft Zuspruch von Kommilitonen, sie drückt Misstrauen aus – und sie ist eine kleine Verschwörungstheorie. Überraschend populär sind Verschwörungstheorien im esoterischen Milieu. Das liegt möglicherweise an bestimmten Strukturähnlichkeiten. So setzt das esoterische Weltbild einen Kosmos in natürlicher Harmonie mit sich selbst voraus. Wenn nun die Welt offensichtlich in Unordnung ist, dann haben Menschen diese Harmonie zerstört. Hinzu kommt ein esoterisches Miss-trauen gegen die „offizielle Lehre“, sei es die Naturwissenschaft oder die etablierte Religion. Und schließlich neigen Esoteriker in ihrem „Nonkonformismus“ zum prinzipiellen Widerstand gegen die „herrschende Meinung“. Man kann auch um den Preis des Vernunftverzichts zum „Querdenker“ werden.

Vorwurf „Verschwörungstheorie!“ als Kritikabwehr

Viele Menschen beklagen, dass sie wegen einer kritischen Meinung als Verschwörungstheoretiker bezeichnet werden. Das passt einerseits zum Selbstbild von Verschwörungsdenkern, die sich als besonders kritische Geister sehen und Gegenwind als Lohn ihres mutigen Widerstands deuten. Andererseits wird seit einigen Jahren der Verschwörungstheorie-Vorwurf inflationär und auch zur Kritikabwehr im politischen Meinungsstreit missbräuchlich verwendet, z. B. bei Kritik am politischen Einfluss von Lobbyisten oder Milliardären. Der undifferenzierte Vorwurf „Verschwörungstheorie!“ fördert gesellschaftliche Spaltung, und Misstrauen. Wer 30.000 Demonstranten kollektiv als „Covidioten“ bezeichnet und dort ausschließlich „Q-Anon-Anhänger, Coronaleugner und Rechtsextremisten“ sieht (Nabert/Naumann, Die Welt 30.7.2020), will nicht informieren, nicht verstehen und auch auf ernsthafte Fragen nicht antworten. Dagegen ist zu sagen: Sogar in einer Pandemie ist Dissens keine Störung der Demokratie, sondern ihr Lebenselixier.

Bisweilen erklärt man offensichtlich einfach jene zu „Verschwörungstheoretikern“, die gerade der Mehrheitsmeinung widersprechen und das nicht sehr differenziert begründen können. Noch im Januar 2020 spottete der Bayerische Rundfunk über „Corona-Panik“: „Die ersten laufen sogar schon mit Mundschutz durch die Städte. Und bewusste Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und reißerische Überschriften über das Coronavirus dominieren derzeit die sozialen Medien” (BR Fernsehen, 30.1.2020). Damals waren also die Corona-Warner die Verschwörungstheoretiker – heute sind es die Verharmloser. Wer Verschwörungsgläubige dämonisiert, wiederholt deren Schwarz-Weiß-Denken. Wir sollten nicht vergessen: die Menschen wollen nicht erzogen und belehrt, sondern verstanden werden. Das ist manchmal anstrengend. Aber nur so kommt man ins Gespräch.

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