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Weltanschauungen
Text 15 Min.

Was ist Wahrheit?

Eine Bibelmeditation zu Johannes 8

„Was ist Wahrheit?“, fragte schon Pontius Pilatus, als er mit Jesus im Gespräch war (Joh 18, 38). Was war dort die Wahrheit angesichts von Anklagen, die offenbar ohne nachweisbare Begründungen auskamen? Und: Was war dort die Wahrheit angesichts eines Angeklagten, der weder argumentiert noch sich verteidigt hat? Eine ähnliche Frage wie Pilatus hatten offenbar auch diejenigen auf dem Herzen, die Jesus schon zu dessen Lebzeiten nachfolgten.


Denn: Noch bevor sie gemeinsam nach Jerusalem zogen, wo sich die Wahrheitsfrage in geradezu existentieller Weise zuspitzen sollte, lehrte Jesus die „Juden, die an ihn glaubten“, seinen Wahrheitsbegriff. So erklärte er: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8, 31f).


Bleiben im Wort Gottes, Wahrheit, Freiheit. Diesen Dreischritt bietet Jesus also all jenen an, die „wahrhaftig“ seine Jünger sein wollen – und dieser Dreischritt hat es in sich, denn er kommt nicht ohne den impliziten Hinweis auf das Heilshandeln des Gottessohnes aus. Und so beschließt Jesus diesen Dreischritt mit der Setzung: „Der Knecht aber bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei“ (Joh 8, 35f).


Grundlage allen Denkens, allen Hoffens, aller Verheißung ist also allein das Wort Gottes – und damit auch Jesus als das menschgewordene Wort Gottes, das von der Zusage durchsättigt ist, dass der Tod eben nicht das letzte Wort hat, sondern auf ewig vom Leben überwunden ist. Denn: Der Sohn bleibt ewig und so bleibt auch sein Heilshandeln ewig, das mit seinem Kommen in unsere Welt begann, sich in einem Leben voller Zeichen der Güte Gottes fortgesetzt hat und schließlich zum Weg über Gethsemane nach Golgatha und so zurück in den Himmel geführt hat, wo ER nun zur Rechten des Vaters sitzt, bis ER am Ende aller Zeit wiederkommt.


„Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ – in dieser Klarheit bündelt Jesus kurz vor dem Gespräch über die Wahrheit das heilvolle Handeln Gottes an allen, die sein Lebensangebot annehmen. Finsternis – diese Ansammlung an Schuld, Bösartigkeit und Lebenszerstörung, sie regiert unter Jesu Zusage nicht mehr. Stattdessen: Licht. Klarheit.
Licht des Lebens, in dem sowohl Schuld als auch Leid hell erleuchtet und angeschaut werden, aber in letzter Instanz nicht über das Leben bestimmen.


„Ich bin das Licht der Welt“ – das ist die Wahrheit Jesu, denn: Erst seine Lebensentäußerung, durch die der wahre Gott auch zum wahren Menschen wird, bringt das erlösende Handeln Gottes mitten unter uns Menschen. Erst sein Weg durch unsere Welt macht deutlich, was für ein Gott sich uns hier eigentlich zuwendet. Erst sein Ringen in Gethsemane zeigt nicht nur die Schwere des menschlichen Leidens und der menschlichen Schuld, sondern gleichzeitig auch die übergroße Bereitschaft Gottes, sich genau darauf ganz konkret einzulassen. Und: Erst sein Sterben am Kreuz macht Gott wirklich zu einem von uns, denn ER flüchtet sich nicht in seine Göttlichkeit, um den Tod zu vermeiden, sondern stirbt wie ein Mensch. Doch damit nicht genug, denn: Erst sein Auferstehen am dritten Tag senkt die Auferstehungshoffnung in das Herz aller Menschen. Das leere Grab wird so zum Signum dafür, dass nicht nur der Tod, sondern auch alle Todesstrukturen mitten im Leben, alle Schuld und letztlich auch alles Leiden in Christus aufgenommen und verwandelt werden. So erscheint das Kreuz – wahrhaftig – als Ort des Todes und gleichsam als Baum des Lebens, bestätigt durch das leere Grab.


Das also ist Jesu Wahrheit: Das Licht des Lebens werdet ihr haben, denn ICH bin das Licht der Welt.
Martin Luther hat hierfür seine ganz eigene – und recht eindrückliche – Sprache gefunden, um diese Wahrheit lebensnäher zu fassen. In der „Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) spricht er vom „fröhlichen Wechsel“, der zwischen Jesus und der Seele stattfinde, um den Menschen zu befreien: „Der Glaube (...) vereinigt auch die Seele mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam. Aus dieser Vereinigung folgt, (...) dass Christus und die Seele ein Leib werden. (...) So hat Christus alle Güter und Seligkeit, diese sind nun der Seele zu eigen. So hat die Seele alle Untugend und Sünde, die werden nun Christus zu eigen. Hier zeigt sich nun der fröhliche Wechsel. (...) [Und] so müssen die Sünden in Christus verschlungen und ersäuft werden.“ (Übertragung aus Art. 12).


Der Glaube ist es also, der – fest gegründet im Wort Gottes – daran festhält, dass Christus sich in jedes Leben einspricht. Und das heißt: Der, der ohne Schuld und Sünde ist, kommt direkt und konkret mit dem sündigen Menschen zusammen. Und mehr noch: Die Seele des Menschen und Christus verbinden sich in einer so innigen Weise, dass ein „fröhlicher Wechsel“ stattfindet: Christus nimmt die Schuld des Menschen auf, während der Mensch die Liebe Gottes erlebt und davon ausgefüllt wird. Und die Konsequenz dieses Tausches ist dann die Freiheit. Freiheit, weil nun alles Sündige des Menschen, alle Gottesferne, alle Finsternis bei Christus ist. Der Mensch ist frei. Der Mensch ist gerecht in Christus.


In dem „fröhlichen Wechsel“ gewinnt Jesu Wort Gestalt, das ER seinen Jüngern mit auf den Weg gegeben hat: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird Euch frei machen.“ (Joh 8, 32), denn hier wird deutlich, dass dies eine doppelte Wahrheit ist: Zunächst ist es tatsächlich die heilvolle Zusage Gottes durch das Leben, Sterben und Auferstehen seines Sohnes. Aber es ist zugleich auch die Einladung an uns Menschen, im Angesicht des erbarmenden Gottes zu erkennen, wer wir wirklich sind, unsere eigene Wahrheit also – auch in ihrer Abgründigkeit – mutig in den Blick zu nehmen. Und das heißt: Was in unseren Herzen zu finden ist, das ist nicht immer fromm oder menschenfreundlich; es ist nicht immer rational und durchdacht oder ausgewogen. Nein, was hier zu finden ist, ist eben auch von Groll durchsättigt, von Neid, von Wut, von Schuld, vielleicht auch von Hass, von Überheblichkeit, von moralinsaurer Bevormundung oder von dem Gefühl der Unzulänglichkeit, von Selbstzweifeln und von vielen anderen Dingen, die besser verschwiegen und begraben gehören – und doch tief im Keller der eigenen Seele ihr gärendes Eigenleben führen, bis alles irgendwann zum Ausbruch kommt.


Im Angesicht auch unserer unrühmlichen Wahrheit gewinnt Jesu Einladung noch mehr befreiende Kraft, denn sie lautet: „Traut Euch, Eure Wahrheit im Lichte MEINER heilenden Wahrheit anzuschauen! Traut Euch, auch in Eure zerstörerischen Gedanken und Tiefen vorzudringen und sie zusammen mit MIR ans Licht zu bringen und verwandeln zu lassen! Und traut Euch, das, was Ihr seid, vor Gott auszubreiten und alles in seine erbarmende Wahrheit und Liebe einzubetten.“ Im Grunde lautet Jesu Einladung also: Traut Euch zum „fröhlichen Wechsel“ – auch dann, wenn Euch Eure eigene Wahrheit schmerzt wie ein paulinischer Stachel im Fleisch.


Und so gibt es in den Zeiten der „Fake News“ und „alternativen Fakten“ tatsächlich eine Wahrheit, die zum Leben hin befreit. Aber: Es ist keine komfortable Wahrheit, denn sie kommt nicht als eine herrliche Wunderpille mit bunter Schleife daher, die mit einem Schlag alles in Ordnung bringt. Nein, es ist vielmehr eine umkämpfte Wahrheit und in den Augen der Welt bisweilen auch ein Skandal und eine Torheit, denn es ist eine Wahrheit, die den Weg von Gethsemane über Golgatha geht und durchhält. Es ist also eine Wahrheit, die das Kreuz nicht verschmäht und die das Schweigen des Karsamstags aushält. Doch zugleich ist es auch eine Wahrheit, die ganz und mit allem, was den Menschen ausmacht, zum Leben durchstößt – zum ewigen Leben. Ist ein solcher Weg komfortabel? Nein. Aber: Er ist nachhaltig. Jesus selbst verweist darauf, dass der Mensch, der in seiner Gottesferne geknechtet ist, nicht ewig im Haus sein wird; das menschliche Wollen und Ringen wird also ebenso wie die Macht aller Herren der Welt verschwinden, weil sie nicht zum Leben führen. Doch „der Sohn bleibt ewig“ (Joh 8, 35), ER wartet auch im und jenseits des Todes. ER spricht das letzte Wort – und dies wird ein Wort des Lebens sein.


Und „so seid Ihr wirklich frei“ (Joh 8, 36), denn der „fröhliche Wechsel“ erfüllt seinen Zweck voll und ganz. „So seid Ihr wirklich frei“ von den Zwängen der Welt, von den engen Schluchten des eigenen Herzens, von der eigenen brüchigen Gottesliebe, in die sich immer wieder das „Sollte Gott gesagt haben...?“ der Schlange einnistet, die Nebelkerzen des Zweifels und der alternativen Fakten ins Herz trägt. Nein, Jesu Wahrheit lautet: Davon seid Ihr frei, „wenn Ihr bleiben werdet an meinem Wort“; wenn also das Vertrauen in die Lebenszusage Jesu allen Zweifel umarmt und so liebevoll entwaffnet.


Das Bleiben im Wort Gottes, die Wahrheit, die Freiheit – dieser Dreischritt zur Ehre Gottes ist unauflöslich, „wenn Ihr wahrhaftig meine Jünger seid“ (Joh 8, 31). Aber: Es ist kein Dreischritt, der als unerfüllbare moralische Forderung an uns Menschen herangetragen wird, sondern es ist ein einladender Dreischritt – und diese Einladung wird von einem Gott ausgesprochen, der Mensch geworden ist und deshalb um sämtliche menschlichen Regungen, Freuden und Abgründe ganz konkret weiß. Es ist also eine liebevolle und geradezu demütig vorgebrachte Einladung – zudem ausgesprochen von einem Gott, der sein Liebstes gegeben hat, damit wir leben und auch unter dem Kreuz unseres Lebens und Todes auf den hoffen können, der die Welt überwunden hat. Es ist also eine Einladung zum „fröhlichen Wechsel“, durch den wir unsere und Gottes Wahrheit erkennen dürfen und am Ende das Leben gewinnen.


„Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das schenke Gott uns allen!

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