Wenn Ärzte das Leben abwerten
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Deutschland ging aus dem Ersten Weltkrieg als besiegte, verarmte und demoralisierte Nation hervor. In diesem Vakuum publizierten Karl Binding, ein anerkannter Rechtsanwalt, und Alfred Hoche, ein Psychiater, 1920 ein Buch mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“.
Darin prägten sie den Begriff des „lebensunwerten Lebens“ und legten dar, dass es in bestimmten Fällen gerechtfertigt sei, Menschen zu töten, die an unheilbaren Krankheiten oder schwerwiegenden Behinderungen leiden. Hoche benutzte den Begriff „Ballastexistenzen“, um Menschen zu beschreiben, die psychische Störungen, Hirnschädigungen oder eine geistige Behinderung aufweisen. In den frühen 30er-Jahren wurde eine Propaganda in Gang gesetzt, die sich gegen die traditionellen christlichen Werte einer barmherzigen Haltung gegenüber chronisch und unheilbar Kranken richtete.
Bereinigung des Genpools Ausgehend von dieser Eugenik wurde Professor Dr. Ernst Rudin, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie in München, zum hauptsächlichen Architekten der Durchführung von Zwangssterilisationen. Die Ärzteschaft hat sich dieser Maßnahme mit großem Enthusiasmus gewidmet, so dass innerhalb von vier Jahren fast 300.000 Patienten sterilisiert wurden.
Bei mindestens 50% dieser Patienten erfolgte die Zwangssterilisation, weil sie wissenschaftlich entwickelte „Intelligenztests“ nicht bestanden hatten. Zu Beginn des Krieges im Jahr 1939 wurde das Zwangssterilisationsprogramm unterbrochen und mit der Tötung von erwachsenen und auch minderjährigen Patienten begonnen. Eltern und Verwandte von schwer behinderten Kindern traten mit dem Wunsch nach einem „Gnadentod“ an die Nazi-Institutionen heran.
Der erste Patient, der getötet wurde, war ein Neugeborenes mit Extremitätenfehlbildungen und angeborener Blindheit, bekannt geworden als „Fall Kind Knauer“. Die Tötung wurde nach persönlicher Autorisation durch Adolf Hitler und mit Einverständnis der Eltern durchgeführt. Dieser „Testfall“ ebnete den Weg für die Registrierung aller Kinder unter drei Jahren mit „schwerwiegenden Erbkrankheiten“.
Ein Expertengremium, dem auch drei Medizinprofessoren angehörten, die die Patienten jedoch nie persönlich gesehen oder untersucht hatten, ordnete auf dieser Basis bis Kriegsende die Tötung von 6.000 Kindern entweder durch eine tödliche Injektion oder durch Verhungernlassen an.
Die Durchführung von Euthanasien bei Erwachsenen begann im September 1939, als in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin die „Aktion T4“ unter Leitung von Dr. Karl Brandt und Philipp Bouhler startete.
Das Ziel war, 70.000 Krankenhausbetten für Kriegsverletzte zu schaffen. Alle staatlichen Einrichtungen wurden angewiesen, Patienten zu melden, die länger als fünf Jahre krank oder arbeitsunfähig waren. Diese Patienten wurden vergast und verbrannt, z. B. Im hessischen Hadamar. Falsche Todesbescheinigungen wurden ausgestellt mit Diagnosen, die zu Alter und Vorerkrankungen des Patienten passten; die Angehörigen erhielten eine Rechnung für die „Behandlung“ und Bestattung.
Als im Jahr 1941 die benötigte Anzahl an Krankenhausbetten erreicht war, wurde die Aktion gestoppt. Zu diesem Zeitpunkt wurde das bis dahin geheimgehaltene Euthanasieprogramm öffentlich bekannt. Das Personal der „Aktion T4“ und die sechs Euthanasieeinrichtungen wurden fortan für die Tötung von Juden, Polen, Russen, Zigeunern und systemuntreuen Deutschen genutzt. Ab 1943 wurden 24 große und 350 kleine Konzentrationslager betrieben.
Tatsächlich begann der Holocaust der Nazis eher unauffällig: in Altenheimen, Krankenhäusern und psychiatrischen Kliniken. Im gesamten Euthanasieprozess waren Ärzte beteiligt, von der Meldung und Selektion über die Autorisierung bis hin zur Exekution, dem Ausstellen der Todesbescheinigung und sogar in der Forschung auf diesem Gebiet. Die Beteiligung am Euthanasieprogramm wurde ihnen nicht befohlen, vielmehr wurden die Ärzte zur Durchführung bevollmächtigt. Leo Alexander, Psychiater und Berater des Chefanklägers der Nürnberger Ärzteprozesse, beschrieb diesen Prozess folgendermaßen: „Die Anfänge waren lediglich eine subtile, raffinierte Veränderung der grundlegenden Haltung der Ärzte. Es begann mit der Haltung, dass es Leben gibt, das nicht wert ist, gelebt zu werden („lebensunwertes Leben“). Diese Haltung bezog sich zu Anfang nur auf unheilbar kranke Patienten.
Ganz allmählich wurde der Kreis der Betroffenen erweitert, um die gesellschaftlich Unnützen, ideologisch Unerwünschten, ethnisch Unerwünschten und letztendlich alle Nicht-Arier miteinzubeziehen.“ Das Kriegsverbrechertribunal der Nürnberger Prozesse berichtete, dass „ein Teil der Ärzteschaft bewusst und sogar bereitwillig bei der Massenvernichtung kranker Deutscher mitwirkte“. Unter ihnen befanden sich einige der führenden Akademiker und Wissenschaftler der damaligen Zeit. Keiner dieser Männer wurde jemals strafrechtlich verfolgt, während sich unter den 23 Angeklagten der Nürnberger Ärzteprozesse nur zwei international bekannte Akademiker befanden.
Es fällt leicht, sich vom Holocaust und den daran beteiligten Ärzten zu distanzieren. Das Bild des SS-Schlächters, der im Konzentrationslager tödliche Experimente mit Menschen durchführt, entspricht nur zum Teil den historischen Tatsachen. Der gesamte Prozess wurde durch die Zusammenarbeit international respektierter Ärzte mit dem Staat sorgfältig organisiert.
Zudem war die grundlegende Weltanschauung tief verwurzelt in der westlichen Gesellschaft der damaligen Zeit. Der Internationale Eugenik-Kongress, auf dem 1932 Ernst Rudin zum Präsidenten der Internationalen Eugenik-Gesellschaft gewählt wurde, fand in New York statt, nicht in Berlin. In den USA wurden 30.000 Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges sterilisiert, innerhalb Europas ist Dänemark Deutschland vier Jahre voraus gewesen.
Was können wir lernen? Diese Lektionen aus der Geschichte sollten uns für ähnliche Strömungen in unserer Gesellschaft sensibilisieren. Was können wir aus der Geschichte lernen?
Erstens:
Zu Anfang wurde die öffentliche Meinung durch Propaganda beeinflusst. Filme wie „Ich klage an“ (Originaltitel: „I accuse“) warben für Euthanasie als gnädige Erlösung. Der Film beschreibt eine Frau, die unter Multipler Sklerose leidet. Auf ihren Wunsch hin tötet sie ihr eigener Ehemann, während ein Freund im Nachbarzimmer leise Klavier spielt.
Zweitens:
Das Verwenden von Euphemismen verzerrt die Tatsachen und lässt die Vorgänge respektabel erscheinen. Der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ organisierte die Tötung behinderter Kinder. Die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ transportierte erwachsene Patienten in die Tötungseinrichtungen, während die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ die Kosten für die Euthanasie von den trauernden Verwandten eintrieb.
Drittens:
Ein drittes Merkmal waren ausführliche Kosten-Nutzen-Analysen. Schulkinder verglichen in ihren Mathematikaufgaben die Mietkosten für eine kleine Wohnung mit denen, die durch die Pflege „Verkrüppelter, Krimineller und Verrückter“ entstehen. Offiziellen Berechnungen zufolge wurden durch die Tötung von 70.000 Patienten innerhalb der T4-Aktion 245.955 Reichsmark pro Tag eingespart. Sowohl für die Euthanasie von Kindern als auch von Erwachsenen gab es ausführliche Formulare, auf deren Basis die Entscheidung über die Tötung getroffen wurde. Die Ideologie hinter dem Holocaust war utilitaristisch und hegelianisch. Der Status bestimmter Menschen wurde abgewertet, während der von Tieren erhöht wurde. Ironischerweise waren im Dritten Reich die Tierschutzgesetze besonders streng.
Viertens:
Die letzte Lektion, die wir lernen können, ist die Gefahr, die von einer zu engen Beziehung zwischen Medizin und Staat ausgeht. Im Juni 1933 bekräftigte das Deutsche Ärzteblatt „die besondere Verantwortung der Ärzteschaft, innerhalb der Vorgaben des Staates die Aufgaben zu bearbeiten, die durch die Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene entstehen“.
Fazit
Der Völkermord der Nazis begann ganz klein. Für den weiteren Fortschritt waren anfänglich nur vier Faktoren notwendig: eine begünstigende öffentliche Meinung, eine Handvoll breitwilliger Ärzte, wirtschaftlicher Druck und die Freiheit von Strafverfolgung für die Beteiligten. Hinzu kamen noch eine eugenische Sozialpolitik und Krieg. Die zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Deutschland der 30er-Jahre und der Richtung, in die sich die westliche Medizin aktuell entwickelt, sollten die Alarmglocken schrillen lassen.
Die wachsende Akzeptanz und Praxis der aktiven Sterbehilfe in Australien, den USA und Europa klingen allzu vertraut. Sie alle laufen den nachkriegszeitlichen ethischen Vereinbarungen, die durch die World Medical Association eingeführt wurden, zuwider. Zusammen mit zunehmender Gesundheitspropaganda, trügerischem Euphemismus, zunehmender Bedeutung der Patientenautonomie, hohem Stellenwert von Kosten-Nutzen-Analysen und einer immer größeren Nähe von Staat und Medizin sollten diese Entwicklungen uns als christliche Ärzte aufhorchen und handeln lassen.