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Ethik
Text 45 Min.

Führt Säkularisierung zum Moralverfall?

6. Gegen die Furcht vor Moralverfall durch Säkularisierung führt Joas an, daß „die großen Atheisten des 19. Jahrhunderts“ in ihrem anti-kirchlichen Kampf für eine „Verbesserung des Diesseits“ und „eine intensive Lebensführung“ (was immer das sein soll) sowie gegen „unnötige Schuldgefühle, einen Zwang zur Ablehnung der eigenen Körperlichkeit und zur Heuchelei im zwischenmenschlichen Umgang“ doch „zutiefst moralische Motive“ erkennen ließen. Dies gelte in der Regel auch „bei Menschen, die heute in dieser Weise gegen den Glauben argumentieren“. Atheistische Blogs und Kommentare auf christlichen Seiten im Internet, bei denen Zynismus, aggressive Abwertungen, Häme und Unfähigkeit zu Differenzierung und Toleranz dominieren, sind dann wohl die Ausnahme. Zudem verkennt Joas’ Behauptung: „Ohne die Unterscheidung der moralischen Tiefe verschiedener Atheismen können aber keine Aussagen zu den moralischen Folgen von Säkularisierung gemacht werden“, daß es etwas Gemeinsames aller Varianten von Atheismus geben muß und auch ein unideologischer „Nobelatheismus“ vor einem Verbindlichkeitsproblem steht: Wo Joas von „Quellen“, „Wurzeln“ und „zwei Ursprüngen der Moral“ spricht, hat er vor allem Moralbegründungen im Blick: aus „wertkonstitutiven Erfahrungen“ und der „Reflexion auf die Bedingungen von Kooperation“. Als „Waffe zur Erzwingung ihrer Rechte“ spricht er den aufeinander angewiesenen Akteuren am Beispiel gemeinsamen Fischfangs bei melanesischen Stämmen (das für eine hochdifferenzierte Massengesellschaft nur begrenzt tauglich ist) „Reziprozität“ zu, die sich „als Grundlage der gesamten sozialen Struktur erweist“. Dies ist zu kurz gegriffen, weil, wie er dann auch eingesteht, die Fähigkeit mancher Individuen und Gruppen zur Gegenleistung unterentwickelt ist und es „schon beim Hinzutreten eines Dritten in einer Interaktionskette a-b-c ein Zirkulations- und Garantieproblem“ gibt. Die Instabilität der Reziprozitätsmoral will er durch ein „Vertrauen auf die Einhaltung von Normen“, durch „zusätzliche situationsenthoben-dauerhafte Wertbindungen, etwa an den Wert der Gerechtigkeit“, die „Bindung an die goldene Regel“ und den „kategorischen Imperativ“ lösen. Aber wie sollen Vertrauen und Wertbindungen generiert und garantiert werden?

Rein immanente Vertragstheorien über gemeinsam anerkannte Werte, Normen und Tugenden stoßen neben dem philosophisch noch leidlich lösbaren Begründungsproblem in der menschlichen Wirklichkeit auf ein Motivationsproblem: In der Fülle staatlich oder sozial unkontrollierbarer Situationen gibt es für den Einzelnen drei Handlungsoptionen:
Er kann (1.) unbedingt moralisch handeln, unabhängig von Vorteilen, die er haben könnte, wenn er die Situation ausnutzt. Er macht das allgemeine Interesse zum Seinigen und handelt unabhängig vom Verhalten der anderen den Regeln gemäß – eine unwahrscheinliche Handlungsweise, weil die innerweltlichen Anreize zu dieser „reinen Ethik“ gering sind, die pursuit of happiness keineswegs deckungsgleich mit einem Leben in höchster Moralität ist.
Er kann (2.) bedingt moralisch handeln und sich sagen: Ich bin bereit, mich an die Regeln zu halten, wenn alle an- deren oder doch die meisten es auch tun. Ich breche aber die Regeln, wenn ich das Gefühl habe, allein der Dumme zu sein. Je größer und unübersichtlicher aber eine Gesellschaft, um so stärker wird die Unsicherheit über das Verhalten anderer, so daß selbst Bürger, die eigentlich bereit wären, den Verallgemeinerungsgrundsatz auf sich selbst anzuwenden, aus Furcht vor Übervorteilung dazu neigen können, es mit dem Regelgehorsam nicht so genau zu nehmen (Isolationsparadox).
Er kann (3.) die Einsicht haben, daß dem Gemeinwohl am besten gedient ist, wenn sich alle regelgetreu verhalten; er findet aber, die beste Situation sei diejenige, in der sich alle anderen (bzw. die meisten), nur nicht er selbst, an die Regeln halten. Auch die Wahrscheinlichkeit dieser „Schwarzfahrer-Devise“ steigt mit der Anonymität der großen Zahl.

Weder mit dem kalkulierten Egoismus dieser dritten Option noch mit dem Vernünfteln, was wohl die anderen tun werden, läßt sich ein gesellschaftliches Werte- und Regelsystem aufrechterhalten. Aber auch ein moralischer Heroismus der ersten Option, der den Regelgehorsam aus reiner Achtung vor dem Gesetz, ohne empirische Nutzenerwägungen leisten sollte, ist aller menschlichen Erfahrung nach als Garant eines ethischen Systems ungeeignet, weil angesichts der ambivalenten Menschennatur zu unwahrscheinlich. Die Antwort auf dieses Problem des „Ethikversagens“ liegt im religiösen Glauben an den transzendenten Ausgleich von Sittlichkeit und Glückseligkeit für die unsterbliche Seele. Der Gedanke einer überweltlichen Rechtfertigungspflicht stellt die Versicherungsinstanz dafür dar, daß die Ethik in Geltung ist, daß sogar der Zustand, selbst als einziger sittlich zu handeln und dabei in der Welt hoffnungslos unterzugehen, immer noch jenem Zustand vorzuziehen wäre, in dem gar keiner sittlich handelte. Die letzte Konsequenz einer Auflösung dieser religiösen Ethikverankerung hat Dostojewski in dem Satz zugespitzt: „Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt“ (Schuld und Sühne).


7. Auch auf der zweiten Stufe des bedingt moralischen Handelns übt der Glaube eine stabilisierende Funktion aus. Mit der Nähe zur Kirche wächst nämlich die Bereitschaft, den Mitmenschen gleichsam einen Vertrauensvorschuß zu geben. Mit ihrem größeren Grundvertrauen gegenüber den Mitmenschen verbindet sich bei Gläubigen jedoch eine ausgeprägte Bescheidenheit und Skepsis gegenüber den Möglichkeiten einer besseren Welt. So meint fast jeder zweite Atheist, aber nicht einmal jeder dritte Gläubige: „Die Welt könnte wesentlich besser sein“; umgekehrt vertreten zwei Drittel der Gläubigen, aber nur die Hälfte der Atheisten die Meinung: „Die Welt ist eigentlich nicht schlecht, der Mensch ist das Problem“. Atheisten vertrauen den konkreten Menschen also weniger, doch sie trauen dem Menschen an sich mehr zu. Ein Widerspruch? Nicht, wenn man die pessimistische Antwort auf die anderen und die optimistische mehr auf sich selbst bezieht: Wer nichts kennt, was den Menschen übersteigt, ist „in gewisser Weise darauf angewiesen [...], sich selbst vertrauenswürdig zu finden“.

Zu einem übermäßig positiven Selbstbild – denn wer sich nicht durch göttliche Gnade „gerechtfertigt“ weiß, wird dazu neigen, sich selbst zu rechtfertigen – paßt eine Suche der Verantwortung für das unabweisbar Böse in den Strukturen der Gesellschaft, also faktisch bei den anderen (Fremdattribution). „Was wir als böse erleben, ist Ergebnis ungerechter Systeme, in denen wir leben“, meinen 44 Prozent der Atheisten, aber nur 12 Prozent der Gottgläubigen; „Das sogenannte Böse sind in Wahrheit Aggressionen, die wir brauchen, um uns im Leben behaupten zu können“ meint jeder dritte Atheist, aber nur jeder fünfte Gläubige. Durch diese beiden Formen der politisch-moralischen und psychologischen Selbstentschuldung (Exkulpation) ist der Weg in den Verdruß über andere, über Politiker, das „System“ oder die Gesellschaft geebnet – und der Weg in großstrukturelle Weltverbesserungsentwürfe. Die Folgen sind bekannt.


8. Nun wäre es abwegig, jedem Atheisten mit einem Soupçon zu begegnen. Ein wesentliches Element kirchlicher Moral- und Soziallehre ist ihre „Bündnisfähigkeit“ im säkularen Raum, weil ihre Erkenntnistheorie sich nicht nur auf Offenbarungswahrheiten stützt, sondern auch auf ein sozialphilosophisches Naturrechtsdenken. Auch die „Heiden“ haben nach biblischer Auffassung Anteil an der göttlichen Ordnungsvernunft, weil ihnen als Geschöpfen „von Natur aus [...] die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab“ (Röm 2,14 f.). So kann es nicht verwundern, daß christliche Ideen keineswegs nur in der und durch die Kirche geschichtliche Wirkung entfalteten.

Die Abgrenzung von Pauschalabwertungen nichtgläubiger Mitbürger sollte aber nicht verdecken, daß die empirischen Durchschnittswerte auf eine höhere Permissivität und einen ausgeprägten moralischen Relativismus hinweisen. Eine Aussage über alle ist keine Aussage über jeden, aber umgekehrt hebt die notwendige Differenzierung der Einzelfälle die allgemeine Aussage nicht auf. Insofern führt Joas’ Hinweis auf die unterschiedliche „moralische Tiefe verschiedener Atheismen“ in der Frage nach den Folgen der Säkularisierung nicht viel weiter. Diese Frage lautet nämlich: Was passiert, wenn eine ganze Gesellschaft oder der größere Teil von ihr den Anker lichtet, den das Grundgesetz in seiner Präambel mit der „Verantwortung vor Gott“ geworfen hat?

In der Botschaft des Evangeliums liegt nicht nur, wie Joas anerkennt, „die stärkste ‚Imagination‘ des Universalismus, die der Menschheit zuteil wurde“, sondern eine unverzichtbare Humanitätsressource mit Kriterien „des Rechten und des Guten“. Der Universalismus ist ein wichtiges Prinzip, das aber sehr unterschiedlich gefüllt werden kann. Wichtiger ist die Imago-Dei-Lehre mit der daraus folgenden unantastbaren Würde und Lebensberechtigung jedes menschlichen Wesens.

Das Menschenbild des Christentums spiegelt die conditio humana in ihren Widersprüchen, in Glanz und Elend. Darin unterscheidet es sich von den zahllosen Bildern, die die Menschen im Laufe der Geschichte von sich selber gemacht haben. Es deckt sich nicht mit dem Schönheitsideal der Renaissance und nicht mit dem Gelehrtheitsideal des Humanismus. In ihm manifestiert sich nicht lediglich der Vernunftstolz der Aufklärung, auch wenn sich in ihm die Vernunft als edelste Eigenschaft spiegelt. Die Schattenseiten sind nicht wegretuschiert wie aus dem Gutmensch-Bild des Liberalismus. Vielmehr gehören die häßlichen, die unerleuchteten, die zum Bösen geneigten Züge hinzu, daß Erbärmliche einer dem Verfall und dem Tod ausgelieferten Kreatur. Ecce homo: das ist der seiner Kleider und seines Ansehens beraubte, mit Geißeln und Dornen gequälte, zur Spottfigur erniedrigte, in seiner Würde zutiefst beleidigte Mensch. Dieser Mensch ist aber Sohn Gottes, und dieser hat die gefallene Menschheit [...] erlöst und damit das Tor zum jenseitigen Heil, zu dem alle berufen sind, aufgetan.

Wenn die Tore unserer Kirchen sich in Europa massenhaft schließen, kann dies langfristig nicht ohne Konsequenzen für unsere Kultur insgesamt bleiben. Diese Sorge sollte ein katholischer Soziologe, der zuletzt ausgerechnet die Regensburger Gastprofessur der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung innehatte, nicht polemisch als „Schlachtruf“ und plumpe Apologie abtun. Tut er es ungeachtet der Dichte gegenteiliger ideengeschichtlicher Zeugnisse, empirischer Daten und sozialphilosophischer Argumente doch, erweckt er den Eindruck, in seiner Erkenntnis selbst nicht allein wissenschaftlich geleitet zu sein – und die Säkularisierung mehr zu illustrieren als zu analysieren. Zum Siechtum des europäischen Christentums gehört sein Mangel an Selbstbewußtsein, den Menschen nicht nur eine „Option“, sondern etwas „Unverzichtbares“ (Benedikt XVI.) mitzuteilen zu haben, und zwar nicht nur für ein jenseitiges Heil, sondern auch für das irdische Wohl. Eine Kirche, die sich von diesem Anspruch und Antrieb verabschiedet, ist „kraftlos geworden“ wie schales Salz. „Es taugt zu nichts mehr, als hinausgeworfen und von den Menschen zertreten zu werden“ (Mt 5,13).

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