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Ethik
Text 45 Min.

Führt Säkularisierung zum Moralverfall?


3. Sein nächstes Argument: Bisher sei ein Moralverfall in den stark säkularisierten Gesellschaften Europas „nicht eingetreten“. Wer befindet eigentlich darüber? Zählen zu den Ursachen der dramatischen Finanzkrise nicht auch moralische? Was ist mit der immer brutaleren Gewalt- und Jugendkriminalität bis hin zu Amokläufen, Mord- und Totschlagsdelikten an Wehrlosen „just for fun“, mit planmäßig-rituellem Vandalismus und dem zunehmenden Widerstand gegen Polizisten? Mit verbreitetem Bullying, Mobbing und Mitarbeiterbespitzelung, immer aggressiveren Werbemethoden und dreisterer Konsumententäuschung? Mit Korruption, Wettbetrug und Doping im Sport, Drogen- Normalisierung und „Komasaufen“, Bildungsdefiziten bis zur Ausbildungsunfähigkeit? Ganz zu schweigen vom Vormarsch „aktiver Sterbehilfe“ und längst akzeptierter Massenabtreibung, von Beziehungsunfähigkeit, Promiskuität und gestiegenen Scheidungsraten, Kindermangel, Pflegemißständen und der Zunahme psychischer Krankheiten? Weisen eine bekennende Egozentrik („Unterm Strich zähl ich“), die Umwertung von Untugenden („Geiz ist geil“) und die Heroisierung ethischer Minimalisten („Titan“ Bohlen) nicht darauf hin, daß „die fetten Jahre der Ethik zu Ende gehen“ (FAZ)? Rechts- und Linksextremismus, Partizipationsmüdigkeit und Verantwortungsscheu bis hin zum Kandidatenmangel bei Wahlen in Kommune und Kirche nicht zu vergessen.

Joas nennt Hinweise auf solche gesellschaftlichen Krisenphänomene „sozialwissenschaftlich dilettantisch“ und kennt „keine ernsthafte Untersuchung“, die hier einen „Anspruch auf Kausalität erheben“ könne. Einen glasklaren „Beweis“ wird man in dieser Hinsicht aber nie führen können – auch er für seine Antithese nicht –, weil man nicht hinter jeden Menschen einen Sozial- forscher stellen und seine religiöse Motivation messen kann. Ein Kausalitätsnachweis, zumal im „historischen oder internationalen Vergleich“ müßte die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Methoden überfordern. Joas nimmt seine unerfüllbare Forderung denn auch bald wieder zurück mit der Feststellung, es sei praktisch unmöglich, eine empirisch gesicherte Aussage über die langfristigen, mehrere Generationen umfassenden Wirkungen von Säkularisierungsprozessen auf moralische Orientierungen zu machen, wenn wir uns nicht auf die oberflächliche Ebene [...] beschränken wollen.

Die Konsequenz daraus kann allerdings nicht heißen, daß wir diese Frage von existentieller Bedeutung einfach offen lassen. Wer keine empirischen Beweise hat, sollte sich zumindest auf die Suche nach empirischen Anhaltspunkten und logischen Plausibilitäten machen.


Hinzu kommt die Gefahr eines Zirkelschlusses: „Moralverfall“ würde ja stets nicht nur konkrete Mißstände zeitigen, sondern auch die subjektiven Maßstäbe dafür verändern, was als moralisch defizitär einzustufen ist. Wenn jemand keinen Moralverfall zu erkennen vermag, kann dies selbst ein Symptom von Moralverfall sein. Joas verweist auf das 20. Jahrhundert „mit seinen heroischen Taten im Dienste säkularer Ideale: der Nation, des Sieges der arischen Rasse, des Kommunismus“ und folgert, „daß die Sakralität von Idealen und die daraus entspringenden Energien eben auch an säkulare Inhalte gebunden sein können“. So steht der aufopfernde Dienst auf dem Schlachtfeld und im Lager für den Rassen- oder Klassenwahn dann plötzlich neben der Aufopferung Mutter Teresas im Dienst an den Sterbenden. Das tertium com- parationis: „moralische Dezentrierung“. Der ethische Unterscheidungswert: nahe Null. Was nach 1945 als Moralverfall monströsen Ausmaßes für die allermeisten Deutschen offenkundig wurde, hatte vielen zuvor als moralischer Aufbruch gegolten. Ein Sozialwissenschaftler – zumal der christliche – kommt nicht umhin, der Frage nach „Moralverfall“ moralische Axiome zugrunde zu legen und sie nicht bloß formal, am „zeitgenössischen Konsens“ orientiert, zu beantworten.

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