Wunder im Visier naturwissenschaftlicher Erkenntnis
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Wunderberichte werden häufig danach beurteilt, ob sie naturwissenschaftlich denkmöglich sind. Für manche Wunder lassen sich durchaus interessante und befriedigende Denkmöglichkeiten aufzeigen. Weithin werden Wunder jedoch als undenkbare Durchbrechungen von Naturgesetzen angesehen. Der Beitrag beschreibt das klassische Verständnis von Naturgesetz und Zufall und den grundlegenden Wandel zur heutigen Sicht. Zusammen mit einer kritischen Betrachtung der naturwissenschaftlichen Methodik ergeben sich eine ganze Anzahl von Denkmöglichkeiten, wie Gott sowohl das Gesetzmäßige, als auch das Zufällige in seinen Dienst nehmen kann, um Überraschendes, Wunderbares zu bewirken. Dabei wird auch bedacht, ob nicht Gottes Möglichkeiten total unterschätzt werden, wenn man nur das naturwissenschaftlich Denkbare in Betracht zieht.
1 Streit um die Wunder
Wunder sind seit Langem ein Reizthema. Der Zweifler fragt: gibt es überhaupt Wunder? Sprechen nicht textkritische, historische und naturwissenschaftliche Gründe dagegen? Andere sind überzeugt: Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist! Sie berichten von Wundern im eigenen Leben. Hat aber der Glaube denn Wunder nötig? Andere überlegen, ob Gott es andererseits überhaupt nötig hat, Wunder zu tun. Wäre das nicht Flickwerk an der Schöpfung? Wozu geschehen also Wunder und was ist ihre tiefere Bedeutung?
Im Folgenden soll lediglich diskutiert werden, was die Naturwissenschaften zur Frage nach der Möglichkeit von Wundern beitragen können. Es handelt sich also im Sinne von C. S. LEWIS schlicht um eine „vorbereitende Untersuchung“ für alle weitergehenden Fragen.[1]
1.1 Ein Beispiel: „Sonne stehe still ...“
Im Buch Josua, Kapitel 10,7-14 lesen wir einen dramatischen, oft angezweifelten Wunderbericht des Alten Testaments:
Und Josua zog hinauf von Gilgal, er und alles Kriegsvolk mit ihm und alle streitbaren Männer. Und der Herr sprach zu Josua: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich gebe sie, in deine Hand. Niemand unter ihnen wird vor dir standhalten können. Und Josua kam plötzlich über sie; die ganze Nacht durch war er von Gilgal hinaufgezogen. Und der Herr verwirrte sie vor Israel, und sie brachten ihnen zu Gibeon eine schwere Niederlage bei, jagten ihnen nach auf dem Weg zum Steig von Beth-Horon und schlugen sie bis Aseka und bis Makkeda. Und als sie auf ihrer Flucht vor Israel am Abhange von Beth-Horon waren, ließ der Herr große Steine vom Himmel auf sie fallen bis nach Aseka, so dass sie starben; derer, die von den Hagelsteinen starben, waren mehr als derer, die Israel mit dem Schwerte erschlug. Damals, an dem Tage, als der Herr die Amoriter den Israeliten preisgab, redete Josua mit dem Herrn und sprach in Gegenwart Israels: Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond im Tal von Ajalon! Da stand die Sonne still, und der Mond blieb stehen, bis das Volk Rache genommen an seinen Feinden. Steht das nicht im Buche des Wackern? So stand die Sonne still mitten am Himmel und eilte nicht, unterzugehen, beinahe einen ganzen Tag. Und niemals, nicht vorher und nicht nachher, hat der Herr auf eines Mannes Stimme gehört, wie an diesem Tage; denn der Herr stritt für Israel.
- 1.2 Denkmöglichkeiten
Der Text beruft sich ausdrücklich auf eine Quelle („Buch des Wackern“). Dass aber die Sonne auf ein Gebet hin „beinahe einen ganzen Tag“ still stand, wurde und wird weithin als denkunmöglich, weil astronomisch unsinnig, angesehen. Eine – im heutigen Weltbild gesprochen – starke Verlangsamung und spätere Beschleunigung der Erdrotation hätte überdies verheerende Katastrophen auf der Erdoberfläche zur Folge gehabt. Und Erzählungen über einen festgestellten „fehlenden Tag“ in einer astronomischen Berechnung eines Computers der NASA sind physikalisch wenig plausibel und ließen sich trotz gründlicher Nachforschungen nicht bestätigen. Sie müssen wohl als moderne Legenden angesehen werden.
Nun braucht man nicht anzunehmen, dass Gott Josuas Bitte astronomisch wörtlich genommen hat. Was Josua brauchte, war Licht auf dem Schlachtfeld. Und da gibt es für dieses Wunder durchaus Denkmöglichkeiten im Bereich optischer Phänomene: Der verstorbene Physiker Prof. Werner Schaaffs, Berlin, weist auf einen wenig beachteten Zusammenhang im Text hin.[2] Die „Hagelsteine“, die auf eine Fläche von mehr als 500 km2 fielen, stammten offenbar von einem Meteoriten, der zum großen Teil bereits in der Atmosphäre verdampfte. Dadurch entstand eine Schicht mit verändertem Brechungsindex, die Haloeffekte und vor allem auch einen Lichtleitereffekt bewirken konnte. Die bereits untergegangene Sonne konnte so durch Vielfachreflexion Licht in den Bereich des Schlachtfeldes senden.
Eine andere Denkmöglichkeit geht davon aus, dass Teilchen des verdampften Meteoriten in sehr großen Höhen das Sonnenlicht gestreut haben. Dies wird durch einen modernen Bericht nahe gelegt:
Manchmal gelangen Reste größerer Körper zur Erde, die man Meteorite nennt. Berühmt ist der sibirische Meteorfall vom 30. Juni 1908, der in einer menschenleeren Gegend niederging: […] Ungewöhnlich helle Nächte, die am 30. Juni 22 Uhr in England plötzlich begannen und drei Wochen anhielten, waren vermutlich bewirkt durch hochschwebende Staubteilchen, die in 80 km Höhe mit hohen Ostwinden herangeführt wurden und das Licht der (am Erdboden bereits untergegangenen) Sonne zerstreuten. In Heidelberg konnte man am 1. Juli früh 1 Uhr 15 nicht, wie üblich, die Morgensterne photographieren, weil es schon heller Tag war. In der Taiga fand man später Spuren der Masse jenes großen Meteoriten, die später auf 130 Tonnen geschätzt wurde.[3]
- 1.3 Was ist nun damit gezeigt?
Man kann offenbar Denkmöglichkeiten für dieses Wunder aufzeigen. Was genau passierte, wissen wir allerdings nicht. Viele empfinden aber bereits die Angabe von Denkmöglichkeiten als sehr befriedigend und beruhigend, da damit irritierend Unbekanntes, Unerhörtes durch Einordnen in unser wissenschaftliches Weltbild verstehbar gemacht wird.
Dabei ist allerdings kritisch zu bedenken, dass durch eine wissenschaftliche Einordnung bestenfalls verstanden wird, wie sich ein Wunder abgespielt haben könnte. Wesentliche andere Aspekte bleiben offen: Die Frage, ob ein Wunder tatsächlich stattgefunden hat und damit die Erörterung der historischen Glaubwürdigkeit des Berichts; aber auch der zeitliche Zusammenhang zwischen Josuas Gebet und dessen Erhörung durch Gott; und schließlich die Bedeutung dieses Wunders.
Zu bedenken ist auch, dass sich das wissenschaftliche Weltbild mit der Zeit ändert und damit die Denkmöglichkeiten für Wunder zeitbedingt sind. So kann man derzeit zwar für einige[4], aber keineswegs für alle biblischen Wunderberichte plausible Denkmöglichkeiten aufzeigen.
Grundsätzlicher ist die Frage nach dem Wirken Gottes in der Welt. Unterschätzt man nicht bei Weitem die Möglichkeiten Gottes, wenn man nur das naturwissenschaftlich Denkbare in Betracht zieht? Denkmöglichkeiten dürfen deshalb keinesfalls ein absoluter Maßstab werden zur Beurteilung von Wundern.
Unter Berücksichtigung dieser Relativierungen von Denkmöglichkeiten soll im Folgenden dennoch aus naturwissenschaftlicher und gelegentlich speziell physikalischer Sicht einiges zur Frage der Möglichkeit von Wundern diskutiert werden – durchaus im Sinne einer „Diakonie des Denkens“, welche die Denkweise und die Zweifel des naturwissenschaftlich geprägten Menschen ernst nimmt und aufgreift.
2 Was ist ein Wunder?
Das Wort Wunder und zugehörige Wortverbindungen werden recht unterschiedlich gebraucht.[5] Lässt sich dennoch eine brauchbare Definition finden?
Man spricht von „Wundern der Natur“ und von „wunderschönen Landschaften“. Hier wird ein Moment des Staunens, der Bewunderung zum Ausdruck gebracht. Von Gott oder von Durchbrechung der Naturgesetze ist dabei nicht die Rede. Ein Sahara-Bewohner erlebt vielleicht das Wunder des ersten Schnees. Hier wird das Abweichen vom Bekannten und Erwar-teten ausgedrückt. Ein Wissen darum, was normalerweise passiert oder nicht passiert, ist dabei vorausgesetzt. Manche Wunder sind außerordentliche Leistungen von Menschen: Die sieben Weltwunder; Wunder der Technik. Für Kinder ist eine Wundertüte oder eine Wunderkerze staunenswert. Auch zwischenmenschliches Verhalten kann überraschend sein: man kann dabei sein blaues Wunder erleben. Dies ist die Alltagsbedeutung von Wundern.
Wie steht es aber mit Wundern im engeren Sinn, mit Wundern, die anscheinend allen naturwissenschaftlichen Erfahrungen in krasser Weise zuwider laufen? Da wird berichtet, dass das Öl im Krug der Witwe von Sarepta nicht ausging (1 Kön 17); oder dass Lazarus nach vier Tagen wieder lebendig wurde (Joh 11). Und Jesus speiste 5000 Männer samt Frauen und Kindern mit wenigen Broten und Fischen (Mat 14,13-21). Auch in heutiger Zeit sind viele Wunder glaubwürdig dokumentiert. Bei einem Menschen ist ein Bein nachgewachsen, das drei Jahre zuvor amputiert wurde.[6] Und in der indonesischen Erweckungsbewegung (seit 1965) wird sogar von 15 Totenauferweckungen berichtet.
Aus all diesen Beispielen lässt sich zunächst folgende minimale und subjektive Definition gewinnen: Ein Wunder ist ein Ereignis, das nicht in meinen Erwartungshorizont passt.
Es ist ein Ereignis, das mich überrascht und mit dem ich aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen und Erwartungen nicht gerechnet hätte.
Diese Definition hat den Vorteil, dass sie die Frage nach dem Mechanismus („Wie ist das möglich?“) und die Frage nach dem Urheber („Wer tut das Wunder?“ „Aus welcher Kraft geschieht das?“) und die Fragen nach Sinn und Bedeutung („Warum oder wozu geschieht das?“) offen lässt und nicht vorschnell beantwortet.
3 Wunder, Naturgesetze und Zufall
Gegen die Möglichkeit von Wundern im engeren Sinn werden immer wieder die Naturgesetze angeführt. Können Wunder denn etwas anderes sein als Durchbrechung dieser Gesetze? Wäre das aber überhaupt denkmöglich? Kommt so etwas vor?
Zur Klärung lohnt es sich, dem Wesen von Naturgesetzen genauer nachzugehen. Im Folgenden soll aus der Geschichte des Naturgesetz-Begriffs nur die Zeit der klassischen sowie der heutigen Physik berücksichtigt werden.[7]
3.1 Naturgesetze und Zufall in der klassischen Physik
In der klassischen Physik (bis etwa Ende des 19. Jahrhunderts) ging man davon aus, dass alle Naturvorgänge determiniert ablaufen. Für die Physik lautet das allgemein akzeptierte Kausalgesetz[8]:
Ist der Zustand eines abgeschlossenen Systems in einem Zeitpunkt vollständig bekannt, so kann man den Zustand in jedem früheren oder späteren Zeitpunkt grundsätzlich berechnen.
Der Determinismus der klassischen Physik sieht die im Kausalgesetz formulierte Voraussetzung als gegeben an: Physikalische Zustände lassen sich vollständig messen und eindeutig vorausberechnen.
Ein einfaches Beispiel ist der Wurf eines Balles im Schwerefeld der Erde: Aufgrund der vollständig bestimmbaren Anfangsbedingungen (Ort, Impuls und Drehimpuls zu einem bestimmten Zeitpunkt) und der wirkenden Gesetze (Schwerkraft, Aerodynamik, Luftreibung) ist die Bahn determiniert und vorausberechenbar.
Bei komplizierten Vielteilchensystemen wie Gasen musste man aus praktischen Gründen auf Detailkenntnisse verzichten und beschrieb das Verhalten mit Begriffen der Wahrscheinlichkeitstheorie durch Mittelwerte (z. B. des Drucks und der Temperatur) und durch Verteilungsfunktionen (welcher Bruchteil der Gasteilchen hat welche Geschwindigkeit?). Für diese pauschalen Größen ließen sich übersichtliche Gesetzmäßigkeiten angeben. Die Bahnen und Geschwindigkeiten der individuellen Teilchen blieben aber unbekannt und in diesem subjektiven Sinn zufällig, konnten aber nach wie vor als deterministisch angesehen werden. Anders als in der Umgangssprache, wo mit dem Zufall häufig Vorstellungen von Planlosigkeit und Absichtslosigkeit verknüpft werden, enthält der in der Physik eingeführte Zufallsbegriff keinerlei Wertungen.
Es bildete sich das einprägsame Bild der Welt als Maschine: Alles Geschehen läuft ab wie die Bewegung von lückenlos ineinander greifenden Zahnrädern. Die Naturgesetze wurden als undurchbrechbar und ewig gültig angesehen. Ein von LAPLACE formulierter Dämon – modern gesprochen eine Art Supercomputer – wäre in der Lage, alles Geschehen in der Zukunft und auch in der Vergangenheit zu berechnen.[9] Für ein Wirken Gottes und für Wunder sahen viele keinen Raum.
3.2 Naturgesetz und Zufall in der modernen Physik
Die moderne Naturwissenschaft (ab dem 20. Jahrhundert) brachte wesentliche neue und andere Erkenntnisse: In der Chaostheorie wurden Systeme untersucht, deren Verhalten – anders als etwa die Planetenbahnen – extrem von ihren Anfangsbedingungen abhängt. Wegen der praktisch begrenzten Messgenauigkeit ist ihr Anfangszustand nicht genügend genau bekannt und damit die Vorausberechenbarkeit – auch unter der Annahme deterministischen Verhaltens – eingeschränkt („deterministisches Chaos“). Bekannte Beispiele sind das Fallen eines Würfels und das Wettergeschehen.
Die Quantentheorie brachte die tiefer gehende Einsicht, dass Anfangsbedingungen nicht nur praktisch, sondern ganz prinzipiell nicht vollständig festgelegt sind. So sind etwa Ort und Impuls eines Quantenobjekts nicht zugleich „scharf“ festgelegt. Das Verhalten wird damit indeterminiert und prinzipiell zufällig. Es geht hier nicht nur um subjektive Unkenntnis, sondern um objektive Unbestimmtheit.[10]
Die heutige Sicht von Naturgesetzlichkeit und Zufall lässt sich so zusammenfassen: Wir kennen
- einige allgemeingültige Gesetze (z. B. Energieerhaltung)
- einige Gesetze mit bekannten Gültigkeitsgrenzen (z. B. Gravitationsgesetz)
- indeterminiertes (zufälliges) Einzelgeschehen, charakterisiert durch Wahrscheinlichkeitsverteilungen
- quasideterministische Gesetze bei denen der Zufall wegen der großen Zahl der beteiligten Teilchen berechenbar wird (z. B. Materialgesetze von Stoffen aus vielen Atomen)
Dabei ist zu bedenken, dass derzeit sicher nicht alle Naturgesetze bekannt sind. So fehlt eine Theorie, welche die Quantentheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie umfassend verbindet. Hier sind grundlegende Änderungen im Verständnis von Raum und Zeit zu erwarten. Gerade die Rolle der Zeit in verschiedenen Theorien ist bisher noch wenig verstanden. Es ist umstritten, ob es einmal eine Weltformel, eine Theory of Everything (TOE) geben wird, welche alle vier physikalischen Grundkräfte vereinigt. Wahrscheinlich sind außerdem derzeit auch noch Gesetze der psycho-physischen Wechselwirkungen unbekannt.
Gemäß der heutigen Sicht von Naturgesetz und Zufall ist die Rede von der „Durchbrechung“ von Naturgesetzen als Merkmal von Wundern im Allgemeinen nicht sinnvoll: Quasideterministische Gesetze, wie z. B. der Entropiesatz, gelten nur im statistischen Mittel, enthalten also die Möglichkeit von Schwankungen, Abweichungen. Das sind dann aber keine Durchbrechungen dieser Gesetze.
Bei einem zufälligen Einzelgeschehen lässt sich gar nicht eindeutig auf das zugrunde liegende Gesetz (Wahrscheinlichkeitsverteilung) schließen.
Ein Ereignis muss im Allgemeinen durch das Zusammenspiel vieler Gesetze beschrieben werden. Nur wenn man alle kennt, könnte man ggf. eine tatsächlich vorliegende Durchbrechung feststellen. Falls man etwa nur das Gravitationsgesetz kennen würde, müsste man jeden beobachteten Flug eines Vogels als Verletzung dieses Gesetzes ansehen. Da bekanntlich aber die Gesetze des aerodynamischen Auftriebs zusätzlich ins Spiel kommen, liegt keine Durchbrechung vor.
3.3 Methodenbedingte Offenheit für Wunder
Was ist nun eigentlich ein Naturgesetz? Einer der Väter der Quantentheorie, Erwin SCHRÖDINGER, charakterisiert es etwas unscharf so: „Als Naturgesetz nun bezeichnen wir doch wohl nichts anderes als eine mit genügender Sicherheit festgestellte Regelmäßigkeit im Erscheinungsablauf [...].“[11]
Im Grunde gilt dies für alle naturwissenschaftlichen Gesetze. Falls ihr Geltungsbereich besonders umfangreich ist, spricht man dann von Naturgesetzen. SCHRÖDINGER bezieht sich hier auf die übliche Methode von Experiment und Beobachtung und nachfolgender Modell- bzw. Theoriebildung. Dabei bilden zwar Theorien den Rahmen für mögliche Beobachtungen, die empirische Feststellung von Regelmäßigkeiten ist aber vorrangig vor deren theoretischer Formulierung. Kurz gesagt: Naturgesetze sind Nachschriften, keine Vorschriften.
Der historisch naheliegende Vergleich mit juristischen Gesetzen folgt nicht aus der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise, welche lediglich die Regelmäßigkeiten feststellt und mathematisch formuliert. Juristische Gesetze schreiben vor, Naturgesetze beschreiben.[12] Naturgesetze bewirken oder erzwingen auch nicht ein bestimmtes Naturgeschehen, sondern wir beschreiben es, soweit es regelmäßig ist, im Nachhinein.
Nach diesen Überlegungen erstaunt es nicht, dass der Physiker Thomas MILLACK sogar fragen kann: „Gibt es Naturgesetze?“[13] Er schlägt wegen der genannten Gründe vor, auf den Begriff des Naturgesetzes ganz zu verzichten und stattdessen konsequent von Modellbildung und Modellen zu reden. In der Tat lässt sich im Rahmen der ausgearbeiteten Modelltheorien von STACHOWIAK[14]und STEINMÜLLER[15] die naturwissenschaftliche Methode sehr differenziert als Abbildungs- und Konstruktionsprozess darstellen, und auch die Grenzen der Methode lassen sich auf diese Weise gut beschreiben.[16]
Natürlich ist es möglich, den Befund von Regelmäßigkeiten einzubetten in weitergehende Deutungen, Interpretationen, Bekenntnisse. Der Christ weiß hier, dass Gott, der Schöpfer und Gesetzgeber, am Werk ist. Während die Naturwissenschaften die Existenz von Regelmäßigkeiten und deren andauernde Gültigkeit (Permanenz) lediglich feststellen, aber nicht tiefer begründen können, sieht der Glaube hier eine ausdrückliche Zusage Gottes (Noahbund: Gen 8,22), welche die Regelmäßigkeiten (Ordnungen) garantiert.
Wenn nun ein Ereignis beobachtet oder glaubwürdig berichtet wird, das den bisher bekannten Naturgesetzen widerspricht oder zu widersprechen scheint, dann darf sein Vorkommen nicht abgestritten werden. Lässt sich dieses Ereignis wiederholen und zeigt es Regelmäßigkeiten, so wird man es entweder in bekannte Gesetzmäßigkeiten einordnen können oder aber erweiterte oder neue Gesetze formulieren müssen. Ist die Wiederholbarkeit nicht gegeben, weil das Ereignis sehr selten oder vielleicht einmalig ist, so fällt es durch die Maschen der Methode. Hier besteht eine fundamentale methodenbedingte Offenheit für die Möglichkeit von Wundern.
Zur Formulierung von Regelmäßigkeiten erweist sich die Mathematik als Strukturwissenschaft besonders geeignet. Naturgesetze werden hier als allgemeingültige Sätze (Allsätze) mit naturwissenschaftlich interpretierten Größen dargestellt. Anders als bei Sätzen in mathematischen Strukturen lässt sich aber die Allgemeingültigkeit von Naturgesetzen nicht beweisen: Da man nur endlich viele Beobachtungen oder Messungen machen kann, ist der Schluss auf die generelle Gültigkeit rational nicht begründbar (Problem der induktiven Verallgemeinerung). Die Wissenschaftstheoretiker erläutern das gerne mit einem schwarzen Schwan: Nach der Beobachtung von 100 weißen Schwänen liegt der Schluss nahe: „Schwan Nr. 101 ist weiß.“ Oder gleich verallgemeinernd: „Alle Schwäne sind weiß.“ Und dann beobachtet man einen schwarzen Schwan …[17] Auch Naturgesetze lassen uns nicht vor Überraschungen sicher sein! Hier besteht also eine weitere methodenbedingte Offenheit für Ereignisse, die den Erwartungshorizont übersteigen, für Wunder.
4 Verschiedene Denkmöglichkeiten für Wunder
Nach der Diskussion der grundsätzlichen methodenbedingten Offenheiten für Wunder sollen nun konkret einige Denkmöglichkeiten für Wunder aufgezeigt werden, wie sie sich heute für einen Naturwissenschaftler ergeben. Die einschränkenden Bemerkungen über Denkmöglichkeiten und die Überlegungen zum Begriff des Naturgesetzes fließen hier mit ein. Dass im Folgenden gleich mehrere unterschiedliche Denkmöglichkeiten formuliert werden, zeigt einerseits, dass es eine ganze Anzahl von Argumenten gibt, intellektuelle Zweifel zu zerstreuen, dass das Wirken Gottes andererseits aber für uns geheimnisvoll bleibt und nicht einfach durchschaubar ist.
4.1 Wunder als Geschehen im Rahmen bekannter Gesetze
Wir erleben in der Natur eine unübersehbare Fülle verschiedenartiger Ereignisse, die oft – auch bei Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten – überraschend sind und wunderbar. Man denke an einen gerade noch glimpflich abgelaufenen Autounfall oder an die unglaublich erscheinende Rettung von Bergleuten nach vielen Wochen. Hier spielen viele bekannte Gesetze in oft schwer durchschaubarer Weise zusammen. Allerdings wird man bei so komplexen Vorgängen in der Praxis auch nie nachweisen können, dass wirklich alles mit rechten Dingen zuging.
Das biblische Denken legt solche „natürlichen“ Erklärungen von Wundern durchaus nahe. Ausgerechnet bei dem Schlüsselerlebnis des Volkes Israel, dem Durchzug durchs Schilfmeer, wird eine kausale Erklärung gegeben: „Und Mose reckte seine Hand aus über das Meer, und der Herr trieb das Meer durch einen starken Ostwind zurück“ (Ex 14,21).[18]
Bei solchen Erklärungen entsteht häufig das Missverständnis, dass durch eine natürliche Beschreibung das Wunder wegerklärt werde. Es wird die Alternative aufgestellt, dass entweder Gott das Wunder tut, oder man das Geschehen natürlich erklären kann. Gottes Wirken in der Welt schließt aber ausdrücklich auch das regelmäßige, gesetzmäßige Geschehen mit ein. Gerade die Ordnungen der Welt zeigen doch, dass Gott den Menschen Planungssicherheit geben will und damit letztlich Leben und den Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung ermöglicht. Im Noahbund (Gen 8,22) ist das ausdrücklich zugesagt. Gott ist nicht ein Lückenbüßer, der auf das Unbekannte, Unerklärliche, Zufällige beschränkt ist.
Zudem kann eine natürliche, kausale Erklärung nicht beschreiben, wie Gott die Natur in seinen Dienst nimmt und wie er das zur rechten Zeit tut. Naturwissenschaftliche Theoriebildung bezieht sich auf die Schöpfung; sie ist nicht geeignet, den Umgang des Schöpfers mit seiner Schöpfung zu beschreiben. Dennoch kann folgender Vergleich für Gottes Wirken hilfreich sein: Jeder von uns erlebt sich als Verursacher von Veränderungen in der materiellen Welt. Wir wollen z. B. etwas mechanisch bewegen und können das auch (in begrenztem Umfang). Diese gewollte Veränderung steht nicht im Widerspruch zu Naturgesetzen und ist auch nicht von „natürlichen“ Veränderungen unterscheidbar.
4.2 Wunder als statistisch seltenes Ereignis im Rahmen quasideterministischer Gesetze
Viele Gesetze haben den besprochenen quasideterministischen Charakter, der Abweichungen, Schwankungen zulässt. Das ist von prinzipieller Bedeutung gegenüber ideologischen Behauptungen undurchbrechbarer, ewiger Gesetze. Merkliche Schwankungen bei makroskopischen Objekten sind aber extrem selten. Ein Ziegelstein könnte tatsächlich einmal spon-tan nach oben fliegen, wenn die umgebenden Luftmoleküle stark von ihrer normalen Verteilung abweichen. Das passiert (nach PERRIN) allerdings im Mittel nur alle 10 hoch (10 Milliarden) Jahre.[19] Solche Denkmöglichkeiten sind reine Gedankenspielereien und sollten nicht in Betracht gezogen werden.[20]
4.3 Wunder als echtes Zufallsgeschehen durch indeterminierte Ereignisse
Einzelvorgänge im Mikroskopischen sind echt zufällig im Sinn der Quantentheorie und nicht vorhersagbar. Manche solcher Ereignisse können sich über Verstärkermechanismen in unserer Alltagswelt überraschend bemerkbar machen. Teilchen der Höhenstrahlung können im Körper eine Mutation auslösen. Lokale Temperaturschwankungen können in einem Metall zu einem Bruchvorgang beitragen mit weitreichenden Folgen.
Die Zufälligkeit solcher Vorgänge braucht nun aber wie gesagt keineswegs als Planlosigkeit gedeutet zu werden. Gott könnte hier im Verborgenen seine Absichten verwirklichen und auch Wunder bewirken. Dies lässt sich durch folgendes Beispiel veranschaulichen: Im Schachspiel darf der Läufer gemäß den Regeln bekanntlich nur diagonal ziehen, wogegen seine Zuglängen nicht festgelegt sind. Einem unkundigen Beobachter eines Spiels werden die gewählten Zuglängen zufällig erscheinen. Tatsächlich wird die Freiheit in der Wahl der Zuglängen aber im Rahmen einer Strategie genützt, um zu gewinnen. Nach KANT heißt „die Gesetzlichkeit des Zufälligen Zweckmäßigkeit“[21]. Der Philosoph, Theologe und Physiker Hans-Dieter MUTSCHLER kommentiert: „Dies ist nur scheinbar paradox, denn KANT geht davon aus, dass dasjenige, was relativ zu nomologischen Zusammenhängen zufällig ist, in Handlungskontexten durchaus ‚gesetzlich‘ geregelt sein kann.“[22]
4.4 Wunder als Geschehen aufgrund von Chaosgesetzen
Auch die zufälligen Ergebnisse bei chaotischen Systemen könnten durch Gott in den Dienst genommen werden. Hier reichen minimale Eingriffe bei den Anfangsbedingungen, um Überraschendes zu bewirken. Auch hier könnte Gott im Verborgenen wirken ohne dass man ihm auf die Finger schauen könnte.
4.5 Wunder als Geschehen nach bisher unbekannten Gesetzmäßigkeiten
Manche Wunder könnten einmal denkmöglich werden, sobald weitere Gesetzmäßigkeiten bekannt sind. Dies ist vermutlich der Bereich der psycho-physischen Wechselwirkungen und der Heilungen.
4.6 Wunder als Geschehen außerhalb der Naturgesetze
Gott, der Schöpfer und Gesetzgeber der Welt, könnte sicherlich – wenn er das will – seine Ordnungen für einen Moment außer Kraft setzen, um Außergewöhnliches, um Wunder zu bewirken. Die Welt ist ja ein „gott-offenes System“ für seine Einflüsse. Dabei braucht keineswegs die ganze Natur in Unordnung zu geraten. C. S. LEWIS betont: „Die Natur verdaut oder assimiliert diese Ereignisse mit allergrößter Leichtigkeit und bringt sie im Bruchteil eines Augenblicks mit allen anderen Ereignissen in Einklang.“[23]
4.7 Wunder als Anzeichen des „neuen Himmels und der neuen Erde“
Wunder, die an Jesus selbst geschehen sind, z. B. seine Verklärung (Mt 17,1-13) und vor allem seine Auferstehung, sind offensichtlich Anzeichen, Vorboten der künftigen Schöpfungsordnung Gottes, des neuen Himmels und der neuen Erde (Offb. 21). „Und er wird alle Tränen abwischen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offb 21,4)
Hier ist es müßig, nach Denkmöglichkeiten im Rahmen unserer alten Naturerfahrung Ausschau zu halten.
[1] Clive Staples LEWIS: Miracles – a preliminary study, Glasgow 1947, deutsch: Wunder, möglich – wahrscheinlich – undenkbar? Basel/Gießen 4. Aufl. 1986. Siehe auch den Beitrag von Barbara Drossel in Evang. und Wiss., 31. Jg. 2010, Heft 2, S. 111-113.
[2] Werner SCHAAFFS: Christus und die physikalische Forschung, Berghausen (Baden) 1966, 193-199.
[3] Julius BARTELS (Hg.), Art. „Erde im Weltraum“, in: Geophysik (Das Fischer Lexikon), Frankfurt am Main 1960, 93-95.
[4] Colin J. HUMPHREYS: Und der Dornbusch brannte doch. Ein Naturwissenschaftler erklärt die Wunderberichte der Bibel, Gütersloh 2007.
[5] Hugo STAUDINGER / Johannes SCHLÜTER: An Wunder glauben? Gottes Allmacht und moderne Welterfahrung, Freiburg 1986, 11-15.
[6] STAUDINGER / SCHLÜTER (s. o. Anm. 5), 49.
[7] Einen umfassenderen Überblick gibt z. B. Lydia JAEGER: Handeln Gottes oder Naturgesetze? In: Evangelium und Wissenschaft, 30. Jg. 2009, Heft 2, 82-100.
[8] Carl Friedrich VON WEIZSÄCKER: Zum Weltbild der Physik. Stuttgart 10. Aufl. 1963, 85.
[9] Pierre-Simon LAPLACE: Essai philosophique sur les probabilités, Paris 1814 (Neudruck Brüssel 1967), deutsch: Richard VON MISES (Hg): Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, Leipzig 1932, 1 f., 2. Aufl. Frankfurt 1996.
[10] Man sollte hier von Indeterminismus und nicht von Akausalität reden, da das Kausalitätsprinzip nicht verletzt, sondern gar nicht anwendbar ist, da seine Voraussetzung nicht erfüllt ist. Siehe: VON WEIZSÄCKER (s. o. Anm. 8), 85.
[11] Erwin SCHRÖDINGER: Was ist ein Naturgesetz? München/Oldenburg 1997 (5. unveränd. Aufl.), 10.
[12] Michael POOLE: Glaube und Wissenschaft. Wissen für Einsteiger, Witten 2008, 58 f.
[13] Thomas MILLACK: Naturwissenschaft und Glaube im Gespräch. Zwei Wege, die Welt zu entdecken, Kassel 2009, 77 ff.
[14] Herbert STACHOWIAK: Gedanken zu einer allgemeinen Theorie der Modelle, in: Studium generale 18(7) (1965); Herbert STACHOWIAK: Allgemeine Modelltheorie, Wien/New York 1973.
[15] Wilhelm STEINMÜLLER: Informationstechnologie und Gesellschaft. Einführung in die angewandte Informatik, Darmstadt 1993, 178 ff.
[16] Peter C. HÄGELE: ‚Ich mache mir ein Modell‘ – Die Tragweite des Modellbegriffs in der Physik, in: Hans SCHWARZ (Hg.): Glaube und Denken. Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft, 10. Jahrgang, Frankfurt am Main 1997, 143-174; Peter C. HÄGELE: Die Methodik der Naturwissenschaften und ihre Grenzen, in: Hermann SAUTTER (Hg.): Wer glaubt, weiß mehr!? Wissenschaftler nehmen Stellung, Witten 2008, 19-48.
[17] Helmut SEIFFERT / Gerard RADNITZKY (Hg), Art. „Induktion“, in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, 150-153.
[18] HUMPHREYS (s. o. Anm. 4), 279-298; Carl DREWS / Weiqing HAN: Dynamics of Wind Setdown at Suez and the Eastern Nile Delta, in: PloS ONE 5(8) 2010: e12481. doi: 10.1371/journal.pone.0012481.
[19] Bernhard BAVINK: Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion. Frankfurt am Main 1933, 24; die Zahl ist eine Eins mit 10 Milliarden Nullen.
[20] STAUDINGER / SCHLÜTER (s. o. Anm. 5 ), 55 f.
[21] Immanuel KANT: Kritik der Urteilskraft, in: Wilhelm WEISCHEDEL (Hg.): Werkausgabe, Frankfurt 1982, KU, B 344.
[22] Hans-Dieter MUTSCHLER: Zum Spannungsverhältnis zwischen Physik und Theologie, in: Praxis der Naturwissenschaften-Physik 6/46 (1997), 2-9; Hans-Dieter MUTSCHLER: Physik und Religion. Perspektiven und Grenzen eines Dialogs, Darmstadt 2005, 247 f.
[23] Lewis (s. o. Anm. 1), 72.