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Weltanschauungen
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Glaube und Kultur

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Wie können wir in der heutigen Zeit die absoluten Wahrheiten des christlichen Glaubens in einem relativistischen Denkrahmen verstehen und verkündigen ohne sie dabei zu relativieren oder intolerant zu sein? Keine leichte Aufgabe!

Als Denkmodell schlägt der Missiologe P. Hiebert (1999) den sogenannten „Kritischen Relativismus“ vor, der von einer absoluten Wirklichkeit ausgeht, die jedoch nur Gott ganz kennt und die dem beschränkten menschlichen Geist nur so weit zur Verfügung steht, wie Gott sie ihm offenbart. Auch die in der Schrift offenbarte Wahrheit Gottes wird der Mensch aus seiner beschränkten Perspektive immer nur relativ und stückweise erkennen. Wenn Bibelausleger demütig zu dieser Begrenzung stehen, wird der relativistische Denkrahmen an dieser Stelle nicht zu einem Hindernis der Bibelauslegung, sondern zu einer Bereicherung. Er verhindert geradezu jeglichen hermeneutischen Dogmatismus und stellt den Ausleger in eine multikulturelle hermeneutische Gemeinschaft hinein, die seinen Verstehenshorizont ergänzt und bereichert. Der Verkündiger des Evangeliums tritt in diesem Kontext nicht mehr so sehr als Repräsentant der Wahrheit, sondern viel mehr als Zeuge der Wahrheit in Person auf. Dabei wird die Glaubwürdigkeit des Zeugen in einer Welt, in der man Schein von Sein kaum mehr unterscheiden kann, besonders wichtig. Die Menschen der Postmoderne achten dabei mehr denn je auf die ganze Person des Zeugen, nicht nur auf seine Klugheit und Überzeugungskraft.

Mit der Veränderung des Denkens in der Postmoderne wird der Glaube als Wissen an Bedeutung verlieren, als Beziehung und Erfahrung mit dem lebendigen Gott jedoch zunehmen. Die Bibel wird weniger als Lehrbuch und mehr als „Lebebuch“ Interesse wecken.

Im Gottesdienst werden ganzheitliche Elemente bedeutsamer, die biblische Wahrheiten mit allen Sinnen erlebbar machen: Geschichten werden vor theologischen Erörterungen bevorzugt und Rituale wie Abendmahl und Taufe nehmen an Bedeutung zu. Auch die Gestaltung des Gottesdienstraums und der musikalischen Anteile wird im Sinne eines ganzheitlichen Erlebens wichtiger. Der Gottesdienst soll als Feier erlebt werden und Raum geben für Staunen und Emotionen. Dazu sollte das moderne Zeitdiktat gelockert und spontane Beiträge begrüßt werden.

Die Verkündigung des Evangeliums wird auch inhaltlich von diesem Kulturwandel beeinflusst: Juristische Kategorien wie Gerechtigkeit, Sünde, Sühne und Vergebung, die Martin Luther in seiner Zeit so existenziell bewegten, sind in der Postmoderne für die meisten Menschen nicht mehr an erster Stelle relevant.

Sie werden eher durch die Beziehungsaspekte des Evangeliums wie Vertrauensbruch, Scham, Schande, Versöhnung angesprochen, wie sie im Gleichnis vom Verlorenen Sohn deutlich werden. In der „wiederverzauberten“ und von der Esoterik eingenommenen Welt der Postmoderne wird Jesus Christus als Sieger über alle Mächte und der Glaube als geistlicher Kampf auf tiefes Interesse stoßen. Über Widersprüchlichkeiten in der Schrift wird man im Gemeindekontext weniger sprechen müssen, da viele postmoderne Menschen mit dem Sowohl-als-auch biblischer Wahrheiten gut leben können.

Die fehlende Neigung zur Eindeutigkeit in der Postmoderne zeigt sich aber auch im Verhalten der Menschen, die sich vielfach schwer tun, sich bewusst auf die Nachfolge Jesu festzulegen. So gibt es in der Gemeinde Jesu mehr „Sympathisanten“ als früher, die dann vielfach einen besonderen Anstoß brauchen, um konkrete Schritte in die Nachfolge Jesu zu tun.

Die besonderen Herausforderungen der postmodernen Gesellschaft bringen viele verunsicherte und auch einsame Individuen hervor, die zwar flexibel und unabhängig sind, sich aber schwer tun, sich auf klare Ziele, verbindliche Beziehungen und Lebensentscheidungen festzulegen. Viele sehnen sich nach Zugehörigkeit und der Wärme einer Gemeinschaft, können oder wollen aber den eigenen Beitrag dazu nicht leisten. In Fragen der Lebensgestaltung treibt sie die Frage nach der persönlichen Berufung um.

Sie suchen nach Vorbildern und wünschen sich Mentoren, die sie begleiten. Biblische Themen, die in ihr Leben hineinsprechen und auf diese Herausforderungen eingehen, könnten folgende sein: Die neue Identität in Christus. Leben in der Beziehung zu Jesus Christus und nach seinem Vorbild als perfektem Menschen nach Gottes Herzen. Befreiung von Mächten und Bindungen durch Jesus Christus und innere Heilung. Fragen der Führung Gottes, seiner Gaben und der Berufung im Leben. Fragen zu Beziehungen, Ehe oder Single-Sein und Kindererziehung.

Insgesamt fällt mir als Missionarin auf, wie stark sich die Kultur der Postmoderne der kulturellen Prägung nichtwestlicher Völker nähert und damit auch manchen Zügen der biblischen Kulturen. Die Zeitepoche der Moderne war für die westliche Welt offenbar eine Besonderheit, die ihr in manchen Bereichen große Fortschritte, in anderen aber Defizite brachte und die in ihrer extremen Ausprägung der Natur des Menschen nicht ganz entsprach. Es ist davon auszugehen, dass sich in Theorie und Praxis des christlichen Glaubens die kulturellen Einflüsse der Moderne in Zukunft abschwächen werden.

Allerdings ist vielfach noch nicht entschieden, in welchem Verhältnis moderne und postmoderne Einflüsse in den westlichen Kulturen und im christlichen Glauben letztlich stehen werden. Auf jeden Fall bleibt zu hoffen, dass sich die Gemeinde Jesu in diesem Prozess weder von den Wahrheiten der Schrift noch von den Menschen entfernt, sondern immer wieder neu „Salz und Licht“ sein und Antworten geben kann auf die großen Fragen und Sehnsüchte der postmodernen Menschen.

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