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Theologie
Text 40 Min.

Pfingsten aus historischer Sicht

Für Lukas, den begnadeten Historiker und Erzähler, war es eine besondere Herausforderung, die Sendung des Heiligen Geistes zu den Aposteln und ihre Folgen zu gestalten. Im zweiten Kapitel seiner Apostelgeschichte stellt er sich dieser Aufgabe und wird ihr kunstvoll gerecht.

Gegen Ende seines Evangeliums (Lk 24,49) und zu Beginn der Apostelgeschichte

(Apg 1,4f.) berichtet Lukas von Jesu Ankündigung der Sendung des Heiligen Geistes „in wenigen Tagen“ (1,5). Die Jünger sollen deshalb Jerusalem nicht verlassen. In Lk 24,49 fasst Jesus dieses Ereignis in eine kühne Metapher: „Ihr werdet Kraft aus der Höhe anziehen (ἐνδύσησθε, = mit ihr bekleidet werden)“; in Apg 1,5 definiert er es als Taufe.

Das letzte wichtige Ereignis vor dem Pfingstgeschehen ist die Zuwahl des Matthias (1,26), die Lukas in dem Satz berichtet, der der Pfingsterzählung unmittelbar vorausgeht.

Wie soll nun diese Taufe „durch den Geist“ geschehen? Taufe vollzog (und vollzieht) sich üblicherweise auf schlicht-anschauliche Form, durch Wasser. Und von einem Hinweis auf das folgende Pfingstfest ist bei Lukas ebenfalls keine Rede. Er schafft hier subtile Spannung, wie

wiederholt[1] in seiner Apostelgeschichte, und wird sie aufrechterhalten bis in die Pfingsterzählung hinein.

Das zweite Kapitel ist leicht in vier große Sinneinheiten einteilbar: die Herabkunft des Heiligen Geistes auf die in Jerusalem versammelten Jünger und die Reaktionen der herbeigeeilten Juden (2,1-13); die Rede des Petrus, vom heiligen Geist inspiriert (2,14-36); der daran anknüpfende Dialog mit den Juden und die Annahme des Glaubens durch viele Zuhörer (2,37-41), die Ausweitung und Konsolidierung der Urgemeinde (2,42-47). Danach, zu Beginn des dritten Kapitels, erfolgt ein Themenwechsel hin zur Heilung des Lahmen und ihren Konsequenzen.

Die Herabkunft des Heiligen Geistes

Hochrhetorisch ist der Anfang der Pfingsterzählung, mit dem Proömium des Doppelwerks und dem Binnenproömium der Apostelgeschichte vergleichbar. Seinen antiken Zuhörern macht Lukas vom ersten Augenblick an klar, dass er Großes zu erzählen hat, nämlich durch die auffallende Lautgestalt des ersten Satzes: den sonoren Viersilber συμπληροῦσθαι und die η-Assonanzen (-ης): - πλη -... τῆν ἡμέραν τῆς πεντεκοστῆς ἦσαν... Das Bedeutende

findet so seinen Ausdruck in einer Klanggestalt, die sich abhebt von den trivialen Kadenzen des Alltagsgesprächs. Die Erzählung war ja, wie alle wichtigen Texte in der Antike, für das laute Lesen bestimmt, und von jedem Autor erwartete man, dass er die Kunst beherrschte, den Textsinn durch die Lautgestalt pointiert zu unterstreichen und anzureichern.

Vom ,Sich erfüllen‘ einer Zeit spricht Lukas auch an anderen Stellen (Lk 1,57, πληροῦσθαι, über die Zeit der Niederkunft Elisabeths) und Lk 9,51 (συμπληροῦσθαι über die Tage Jesu, die sich erfüllen). Vgl. die Septuaginta: Lev 8,33. (In Lk 8,23 verwendet er συμπληροῦσθαι dagegen für das sich mit Wasser füllende Boot.)

Das Verb bezeichnet den Ablauf einer dem Vollzug eines heilsgeschichtlichen Ereignisses gesetzen spezifischen Frist. Die Angabe ,der Pfingsttag‘ verweist auf das, was sich an diesem Tag vollzieht, nämlich die Erfüllung des Versprechens, das Jesus den Jüngern gegeben hat.

Ludwig Albrecht versucht das in seiner Übersetzung mit „Als der Pfingsttag endlich kam“ wiederzugeben.[2] Das Ende des Satzes ist emphatisch: Die Idee der Gemeinschaft wird massiv hervorgehoben durch den dreigliedrigen Ausdruck „alle als Gemeinde beisammen”.[3]

Diese feierliche Eröffnung hebt sich deutlich ab von anderen Eröffnungssätzen der Apostelgeschichte, die ebenfalls den zeitlichen Rahmen eines neuen Ereignisses bezeichnen, das dann – wie im Neuen Testament so häufig – mit dem Aorist ἐγένετο (2,2) einsetzt.

Der Satz liefert zunächst die zeitliche Einordnung: an Pfingsten, dann die örtliche Situierung.

Das Pfingstfest war das zweite jener Feste, zu denen ein jeder Israelit im Heiligtum vor Jahwe erscheinen musste (Ex 34,22; Dt 16,16). In Apg 20,16 zum Beispiel erfahren wir, Paulus habe sich bemüht, pünktlich zu Pfingsten in Jerusalem zu sein. Es war ein Erntefest (Ex 23,16 und Ex 34,22). Später erhält es statt ,Wochenfest‘ (Num. 28,26) und ,Wallfahrtsfest‘ (Dtn 16,16) den Namen πεντεκοστή, ,der Fünfzigste (Tag)’ nach dem Pascha-Fest. So heißt es auch bei Flavius Josephus (Jüd. Krieg VI,5,3; Jüd. Altert. III, 10, 6).

Der Ort des Geschehens ist ,das Obergemach‘, τὸ ὑπερῷον, der ständige Aufenthaltsort der 120 Jünger nach der Himmelfahrt Christi (Apg 1,13). Der Gebrauch des bestimmten Artikels zeigt, dass Lukas, der mindestens anläßlich des letzten Jerusalembesuchs des Paulus in der Stadt war, „die Lage dieses Raumes als feste Ortsüberlieferung vertraut war“[4]. Dieser erste Versammlungsort befand sich, wie wahrscheinlich der Abendmahlssaal, auf dem Südwesthügel, in unmittelbarer Nähe des Essenerviertels.[5]

Es ereignet sich Rätselhaftes. Lukas erhält die Spannung aufrecht, denn dass der Heilige Geist es ist, der hier plötzlich (ἄφνω) eingreift, wird erst in V. 4 geklärt. Ein Schall wie das Brausen eines heftigen Windes kommt vom Himmel und durchtönt den οἶκος (Haus oder Wohnung), wo die Jünger weilen; das Adjektiv βίαιος (V. 2), ,gewalttätig‘ (eine treffendere Übersetzung als ,gewaltig‘), lässt sofort an einen Sturmwind denken. Genau dieses Adjektiv βίαιος ist es, das Aristoteles in seinen Meteorologica als Merkmal in seiner Analyse der Wirbelstürme (370b 3-17) verwendet.

Dann geht das noch immer „ungenannte vom Himmel Gekommene“ „geheimnisvoll aus dem Hörbaren ins Sichtbare über“[6]. Es erscheinen Zungen, die das Aussehen von Feuer haben; sobald sie sichtbar sind, bewegen sie sich in verschiedene Richtungen (διαμεριζόμεναι ist Partizip Präsens), um sich dann auf den Jüngern niederzulassen wie auf einem mehrarmigen Leuchter.[7] Auf jedem Einzelnen von ihnen, das betont Lukas und hebt es durch die p-Alliteration zusätzlich hervor (2, 4).

Der Geist (V. 4) lässt die von ihm Erfüllten „in anderen Sprachen“ reden. Die Feuerzungen

verwiesen also auf die Sprachen. Im Griechischen, Lateinischen und den romanischen Sprachen wird ja dasselbe Wort für ,Zunge‘ und ,Sprache‘ verwendet.

In Übersetzungen der Pfingsterzählung in diese Sprachen ergibt sich daher die Assoziationsbrücke zwischen ,langues‘ (französisch), ,lenguas‘ (spanisch), ,limbi‘ (rumänisch) im einen und im anderen der beiden Sinne von selbst. In englischen Übersetzungen pflegt sie durch die Verwendung von ,tongues‘ im Sinne von ,languages‘ hergestellt zu werden. Als ,Flammen‘ sind diese Zeichen sichtbar werdender Geist, als ,Zungen‘ stehen sie für die Sprachen.

Die φωνή wird von in Jerusalem wohnenden Juden verschiedener Länder gehört, die „aus jedem Volk unter dem Himmel“ stammen (2,5). Sie eilen herbei und staunen darüber, dass ihre eigenen Sprachen von den Jüngern, Galiläern, gesprochen werden. φωνή – das entspricht dem englischen sound, ist also ein im Deutschen fehlender Oberbegriff für Laut, Stimme, Klang, Geräusch. Lukas spezifiziert nicht, ob das Brausen sie herbeigelockt hat oder der Lobpreis Gottes durch die Jünger (2,4), die anscheinend das Haus verlassen haben.

Von einem diffusen Stimmengewirr[8] ist keine Rede, sondern es könnte sich um einander abwechselnde, jedenfalls unterscheidbare und Gott preisende Ausrufe in verschiedenen Sprachen handeln. Ein Sprachwunder ist es, kein Hörwunder, denn der Lopreis beginnt (2,4) bevor die Menge herbeieilt.[9] Die aus der Diaspora stammenden Juden hören diese Lobpreisungen und sie benennen (als kollektives ,wir') in einer langen Reihe ihre Länder und Völker, deren Sprachen sie vernehmen.

„Jedes Volk unter dem Himmel“ (2,5) ist vertreten. Die Aufzählung erfolgt im Wesentlichen von Ost nach West. Im Mittelteil werden zunächst die nördlichen, dann die südlichen Länder benannt. Der Name Judäa mitten unter den außerjüdischen Ländern fällt auf; diese Schwierigkeit lässt sich beseitigen, wenn man Ἰουδαίαν als Adjektiv zu Mεσοποταμίαν zieht. Gerade zwischen Euphrat und Tigris wohnten viele Juden.[10]

Die einen sind erschüttert, andere spotten: „Mit Most sind sie abgefüllt!“ Offensichtlich meinen sie, die Sprecher seien betrunken; das geht sowohl aus dem Partizip ,abgefüllt‘, μεμεστωμένοι, als auch aus der späteren Reaktion des Petrus (2,15) hervor. Dieser Spott wirkt deshalb besonders hämisch, weil ,abgefüllt‘ wie eine Karikatur mit Vers 4 kontrastiert: „sie wurden vom Heiligen Geist erfüllt“ (Aorist ἐπλήσθησαν).

Das Substantiv γλεῦκος (zum Adjektiv γλυκύς, ,süß’) kommt im Neuen Testament nur an dieser einzigen Stelle vor. Es bezeichnete wie heute noch im Neu-Griechischen den unvergorenen, gerade nicht: alkoholischen Most. Wie ist dieser Widerspruch zu beseitigen?

,Most‘ könnte ironisch als Metonym für Wein verwendet sein, so wie in modernen europäischen Sprachen häufig, ja üblicherweise Metonymien gewählt und sofort verstanden werden, wenn man – wie hier – über jemandes Trinken spottet. Der Alkoholgenuss wird bloß insinuiert, ohne explizit Alkohol zu erwähnen, und zwar in individuellen Formulierungen oder in idiomatischen Redewendungen: „zu tief ins Glas geschaut haben“, „einen über den Durst getrunken haben“, „avoir bu un coup de trop“, „to have had one too many“. Hier entspräche dem etwa: „Die haben wohl etwas zu viel Traubensaft getrunken...“.

Eine Septuaginta-Stelle (Hiob 32,19) belegt, dass das Wort nicht nur für nicht-alkoholischen Saft verwendet wurde, denn dort bezeichnet es eindeutig den jungen Wein. (Jungen Wein, also Federweißen, gab es zur Pfingstzeit nicht.)

Und: Ein Blick in das Lexikon des Hesychios von Alexandrien belehrt uns, γλεῦκος bezeichne „ἀπόσταγμα τῆς σταφυλῆς πρὶν πατηθῇ“, „Destillat aus der Traube vor dem Keltern“, was auf einen besonders starken und süßen Wein deutet.

Festzuhalten ist: Manche halten die Sprecher für betrunken, aber „most hear intelligible speech in a cosmopolitan variety of languages (2:12-13).“[11] – die meisten hören verständliches Sprechen in einer kosmopolitischen Bandbreite an Sprachen (2,12-13).

Für lallende Betrunkene halten die Kritiker dagegen die vom Geist Erfüllten. Oder aber ihr Spott richtet sich gar nicht gegen eine Verstümmelung der sprachlichen Form, sondern gegen die, wie sie meinen, exzessive Begeisterung und die abstruse Semantik, nämlich die den Spöttern schleierhafte Christus-Botschaft.

Vielen Lesern ist der Gedanke gekommen, den Text in Bezug zu setzen zur Sprachverwirrung zu Babel, auch wenn der Text keinen expliziten Hinweis gibt: „Pentecoast rectifies Babel: the confusion of tongues originating there is reversed.“[12] – Pfingsten bringt Babel wieder in Ordnung: Die Sprachverwirrung wird umgekehrt." Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant:

„Die jüdische Kultur rationalisiert im Babelmythos die ,deprimierende‘ Erfahrung der sprachlichen Fremdheit. Allerdings vor dem Hintergrund (...) einer universell einheitlichen Vergangenheit bei aller Verschiedenheit. Dieser Hintergrund der sprachlichen Einheit wird wichtig, wo die babelische Strafe wieder aufgehoben wird, zu Pfingsten nämlich. Beseelt von dem einen Geist kassieren die Apostel zwar die sprachliche Fremdheit nicht, sie überwinden sie aber, weil sie von dem einen (Heiligen) Geist erfüllt sind. Sofern der eine Geist durch ein Wunder die sprachliche Fremdheit überwinden kann, zeigt sich hier in der hellenistischen Welt ganz griechisch, daß die Differenz nicht so tief sein kann. Die Einheit des Geistes, die bei Aristoteles ausdrücklich angenommen wurde, bleibt dann auch bei den griechisch denkenden lateinischen Christen erhalten. Augustinus erkennt hinter allen Sprachen eine einheitliche Sprache des Herzens im Glauben: una lingua fidei cordis.[13]

Erzähltechniken

Lukas eröffnet das zweite Kapitel aus der Perspektive des Beobachters. Sorgfältig ist sein verbaler Annäherungsversuch an das wunderbare Geschehen, den Anspruch, die Ereignisse zu reproduzieren erhebt er jedoch nicht. Das verdeutlicht er durch die sorgsame Verwendung der beiden Präpositionen ὥσπερ und ὡσεί, die Vergleiche markieren[14]: 2,2: „wie wenn ein Wind daherbraust“ und 2,3: „Zungen wie von Feuer“. Er verfährt hier so wie im Hinblick auf die Schweissperlen Jesu, die wie Blutstropfen sind (Lk 22,44), und wie bei der Schilderung der Heilung des Paulus von seiner Erblindung: „und sogleich fiel es ihm (wörtlich: fielen ihm) wie Schuppen (ὡς λεπίδες) von den Augen“ (9,18).

Zu den beiden Prädikaten ,erfüllte’ (V.2) und ,ließ sich nieder’ (V. 3) lassen sich aus dem Kontext formal korrekte Subjekte benennen, nämlich ,das Wehen’ und ,das Feuer’. Die Verben lassen sich aber auch als subjektlos-unbestimmt deuten: „es (=irgendetwas nicht Bestimmbares) erfüllte“ und „es (irgendetwas) ließ sich nieder“, so wie ἀνέπεσαν ,fielen ihm’ (9,18) subjektlos ist, da der Erzähler schlichtweg über kein Wort für dieses Subjekt verfügt.

Zwei Punkte jedoch treten durch auktoriale Einschübe reliefartig hervor. Es sind zentrale narrative Weichenstellungen. Der erste Einschub benennt unmittelbar vor dem Auftritt des Petrus den Grund für seine Rede. Der andere bezeichnet unmittelbar danach den Auslöser für das Nachgespräch. Lukas berichtet von der Ratlosigkeit der Beobachter angesichts der vom Heiligen Geist erfüllten Jünger („sie waren alle erschüttert und ratlos“, 2, 12) und von der Reaktion der Zuhörer der Petrusrede: „sie wurden im Herzen tief erschüttert“ (2,37).

Umgekehrt zieht der Erzähler sich zurück und erteilt den Betroffenen das Wort, als es um „die Völker unter dem Himmel“ geht. Die Betroffenen sind es, die in direkter Rede ihre Völker (2,9-11) nennen, nicht der Erzähler. Lukas gelingt eine der bekanntesten, da eindrucksvollsten, Passagen seiner Apostelgeschichte. Denn Breiten- und Tiefenwirkung der Weise, in der der Heilige Geist eingreift, referiert nicht Lukas – etwa sachlich registrierend, in Form einer Liste –, sondern die ganz im Bann dieser Wirkung stehenden Zeugen präsentieren die Aufzählung in hochemphatischer Rede selbst.[15]

Die erste öffentliche Predigt des Petrus ist ausführlich und in direkter Rede wiedergegeben, so wie der Leser es bei einer Ansprache dieser Bedeutung erwartet. Es ist Lukas, der ihre vorliegende Form gestaltet hat, so wie es ihm die Konvention der Geschichtsschreibung seiner Zeit gestattete.[16]

Der letzte Teil des Pfingstkapitels (2,42-47), die Schilderung des Lebens in der Jerusalemer Urgemeinde, liefert eine abstrahierende Gesamt(rück)schau ohne szenische Präsentation.

Die Rede des Petrus

Eine Ortsangabe für die Rede wird nicht gegeben. Diese könnte an einem anderen Ort stattgefunden haben, der eine große Anzahl von Zuhörern zuließ, etwa auf dem Tempelplatz. Petrus tritt mit den anderen Aposteln vor die Menge und hält seine Rede.

Lukas benutzt nicht das schlichte Einleitungs-Verb ,sagen‘, λέγειν/εἰπεῖν, sondern das Verb ἀποφθέγγομαι, das er auch in 2,4 verwendet hat, wo es das vom Heiligen Geist inspirierte Sprechen der Jünger bezeichnet. ἀποφθέγγομαι fasst zweierlei in eins: frei heraus und laut sprechen. Das bezieht sich unmittelbar auf den folgenden Vers, die Redeeröffnung (2,14): Da Petrus selbst zu diesem Freimut in öffentlicher Rede bereit ist, fordert er die Zuhörer zu komplementärer Offenheit und Aufnahmebereitschaft für seine Worte auf.[17]

Das ist keine rhetorische Floskel. Denn es sind harte Wahrheiten, die Petrus verkünden wird, in Form der direkten Anklage in der 2. Person Plural. Bevor er seine Zuhörer mit dem Vorwurf konfrontiert: „ihr habt ihn mit Hilfe der Heiden ans Kreuz genagelt und getötet“, wiederholt er daher in V. 22 die Aufforderung zum Zuhören und nachher, in V. 29, die Bekundung der eigenen Freimütigkeit.

Der eine lapidare Hinweis auf die Tageszeit erledigt zunächst den Einwand der Spötter: Niemand ist in der dritten Stunde des Tages (um 9 Uhr) betrunken.[18]

Dann beginnt Petrus seine Rede, indem er das Geschehene zunächst Joel, dann dem von ihm als Propheten gesehenen David zuordnet. Er deutet den Zuhörern das, was sich gerade ereignet hat, als Erfüllung der Weissagung Joels 3,1-5. Dort wird die Ausgießung des Heiligen Geistes als Anzeichen des Anbruchs der Endzeit geschildert (3,1-2).[19] Der ,Tag des Herrn‘ ist der Gerichtstag. Jedem, der den Namen des Herrn anruft, wird Rettung verheißen.

„Dieser Vers ist ja unmittelbar einer christlichen Deutung fähig. Unter dem ,Herrn‘ versteht die Urchristenheit nicht Jahwe, sondern Jesus Christus. Ja die Christen, für die erst später eine eigene Bezeichnung aufkommt (vgl. 11,26), gebrauchen für sich den Ausdruck ,die, welche den Namen des Herrn anrufen‘ (9,14.21; 22,16; 1 Kor 1,2; 2 Tim 1,22). ,Den Namen des Herrn anrufen‘ bedeutet nach Röm 10,9-13 Jesus als (den himmlischen) Herrn bekennen.“[20]

Die Christusbotschaft ist der Hauptteil der Rede. Jesus war von Gott durch Wunder beglaubigt, aber die Juden haben ihn „durch die Hand der Heiden“ (2,23) ans Kreuz schlagen lassen. Er ist von den Toten auferstanden. Er ist es, dessen Auferweckung David prophezeit hat. Er hat den Heiligen Geist auf seine Jünger ausgegossen. ,Ausgießen‘ (ἐκχέω) ist eine

Metapher für die Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Jünger, die Petrus als Teil des Joel-Zitats zitiert (2,17 und 18) und danach aufgreift (in 2,33). In der Anfangsszene kommt sie nicht vor und verweist auf den Taufcharakter.

„Das Joelzitat enthält jedoch den Keim einer Ausweitung auf die ganze Welt, weil hier ,alles Fleisch' von der Ausschüttung göttlichen Geistes betroffen sein soll (V. 17). Dieser Impuls wird in der Fortsetzung (V. 39 im Nachgespräch zur Rede) andeutungsweise aufgenommen, indem neben Angeredeten und ihren Nachkommen auch ,die in der Ferne‘ als mögliche Empfänger der Geistesgabe erwähnt werden.“[21]

Lukas gibt sich in der Apostelgeschichte stets bemerkenswert Mühe, die Titel von Personen exakt zu benennen und die Anreden von Personengruppen adäquat zu formulieren. Die

exakt richtige (und während der Rede variable) Anrede des Publikums seitens des Redners ist ein wichtiges rhetorisches Mittel und galt daher in der Antike als Kunst. Sie ermöglicht es ja dem Redner in jeder Phase seiner Rede, sein angestrebtes Verhältnis zum Publikum, und damit zu jedem einzelnen Zuhörer, in Kurzform zu charakterisieren.[22]

Der Wechsel von der Anrede Ἄνδρες Ἰσραηλῖται, „Israelitische Männer” (V. 22), in

Ἄνδρες ἀδελφοί, „Ihr Männer, Brüder” (V.29),[23] drückt die eigene Zugehörigkeit zum jüdischen Volk aus. Jetzt schlägt er sich auf ihre Seite. Mit derselben Anrede werden sich am Ende der Rede die Zuhörer an die Apostel wenden und diese nach dem beschriebenen Prinzip komplementärer Kommunikation um Bruderhilfe bitten: „Was sollen wir tun?” (V. 37)

Der Erfolg der Predigt

Die Predigt selbst endet (2,36) vorläufig ohne Trost, als Anklage. Keine andere Rede der Apostelgeschichte hat eine derartig ,niederschmetternde‘ Wirkung. Lukas wählt die Metapher vom Niedergestochenwerden, κατανύσσομμαι.

Das drastische Wort kommt im Neuen Testament nur hier vor, das Wurzel-Verb νύσσω, ,stechen, durchbohren‘, findet sich schon in den Kampfesszenen Homers. So in der Ilias,

5, 578f.: „Diesen [den Paphlagonenkönig Pylaimenes], wie er dastand, durchstach [Aorist νύξε] der Atride, der lanzenberühmte Menelaos, mit dem Speer, traf ihn bis gegen das Schlüsselbein.“ Angesichts der Allgegenwart Homers im antiken Bildungswesen ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Verwendung des seltenen Verbs durch Lukas bei einem Teil der Zuhörer oder Leser derartige Assoziationen auslöste.

Dann, im folgenden Gespräch, stellt Petrus seinen Zuhörern Vergebung der Sünde (2,38) und Heil (2,40) in Aussicht, wenn sie umkehren und sich auf Jesus Christus taufen lassen:

„Nachdem die Zuhörer fragen, welche Konsequenzen diese Ereignisse für sie persönlich haben, nimmt die Rede des Petrus eine missionarische Wende: Er fordert die Zuhörer auf, Buße zu tun, durch den Anschluss an Jesus Christus Sündenvergebung zu erlangen und sich taufen zu lassen.“[24]

Ungefähr 3000 folgen seinem Aufruf; die hohe Zahl dürfte sich nicht nur auf Taufen aus der Zuhörerschaft der Rede beziehen, sondern sie weist schon voraus auf das Wachsen der Urgemeinde in der Folgezeit.

Die Urgemeinde

Das Kapitel schildert eine gradlinige Entwicklung vom Eingreifen des Heiligen Geistes bis zur Konsolidierung der Urgemeinde innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Jerusalem. Der einzige Widerstand, der Erwähnung findet, ist die Kritik seitens der Spötter, die Petrus entkräftet. Der Abschnitt 2,42-47 ist die erste von drei charakterisierenden Darstellungen des Lebens in der Urgemeinde (vgl. 4,32-35 und 5,12-16). Hier liegt der Schwerpunkt auf der unter den Christen herrschenden Eintracht:

„When Luke says the tongues like fire separated and came to rest on each of them, the implication is that the blessing of God's Spirit was for each individual member of the believing community. The Spirit's work in binding them together as the nascent church is illustrated in 2:41-47.“ – Als Lukas sagt, dass die feuerähnlichen Zungen sich trennten und sich auf jedem von ihnen niederließen, impliziert das, dass der Segen von Gottes Geist jedem individuellen Mitglied der gläubigen Gemeinde galt. Das Wirken des Geistes für ihre Vereinigung in der entstehenden Kirche wird in 2,41-47 illustriert.[25]

Der Tempus-Gebrauch ist ganz anders als das Tempus-Relief Aorist/Imperfekt in den drei vorherigen Teilen des Kapitels. Jetzt wird ausnahmslos für alle Prädikate das Imperfekt verwendet, denn nicht konkrete Einzelsituationen schildert Lukas, sondern dauerhafte Zustände und ständig wiederholte Handlungen, die das Gemeindeleben charakterisieren.

Die Christen bildeten eine Lebensgemeinschaft. Sie „hielten beständig fest [stark betont durch die Imperfektperiphrase mit εἶναι] an der Lehre der Apostel, an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten.” (V. 42) „[N]ach dem Vorbild des vorösterlichen Jüngerkreises, aber wohl auch in missionarischer Konkurrenz zum benachbarten Essener-Viertel”[26] sorgten sie für die Bedürftigen, indem sie ihre „unbewegliche und bewegliche Habe“ verkauften (2,45), wie Lukas uns in gewohnter Präzision, in einer auf Deutsch juristisch anmutenden Formulierung, mitteilt.

Auch dieses Veräußern der Habe ist kein singulärer Akt, sondern geschieht nach und nach, wie die Verwendung des Imperfekts ἐπίπρασκον zeigt. In Apg 4,32 kommt Lukas auf die Habe zurück: „Kein Einziger nannte etwas von seinem Hab und Gut sein Eigentum.“. Diese Aussage zeigt, dass Gemeindeglieder „durchaus über Privatbesitz verfügten, dass sie ihn aber – ganz oder teilweise – bei dringenden Notfällen der Gemeinde bzw. den Aposteln zur Verfügung stellten.“[27] Daher der Gebrauch des Imperfekts, nicht des Aorists.

Die Gesamtkomposition

Das zweite Kapitel verweist durch das Joel-Zitat weit über die Keimzelle Jerusalem hinaus auf die Weltmission, das Thema der Apostelgeschichte. Linear führt Gottes Eingreifen an Pfingsten zur steten Erweiterung der Gemeinde. Wie Baumringe legen sich die Scharen der Neubekehrten (V. 41 und V. 47) um den Kern der Urgemeinde.

„Die Dörfer um den See Genezareth, wo alles begonnen hatte, sanken zurück ins Dunkel der Geschichte. In Jerusalem lag die Zukunft der Männer und Frauen, die überzeugt waren, der Geist Gottes sei über sie gekommen und leite sie.“[28]

Der Endteil (Apg 42-47) ist fest mit dem Pfingstgeschehen verbunden; Eckhard Plümachers im Anschluss an Hans Conzelmann vertretene These, die Schilderung der Verhältnisse in der Urgemeinde hätte „mit der in 2,1-41 berichteten Szene nichts mehr zu tun”[29], ist weder im Hinblick auf den Inhalt noch auf die Gestaltung zutreffend.

Lukas wählt den Aufbau und den oftmals ungewöhnlichen Wortlaut mit Bedacht, um die Kohärenz des Kapitels zu sichern. Auffallend ist die dialogische Struktur, die das Kapitel prägt. Die Jünger verkünden Jesus, was unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Diese werden zum Anlass für die klärende Rede des Petrus, die ihrerseits zum Auslöser wird für ein Nachgespräch zwischen den Aposteln und den Zuhörern, das den Grundstein legt für das Aufblühen der Urgemeinde. Eine Kettenreaktion also vom Anfang bis zum Ende des Kapitels.

Nicht Spaltung, Einheit ist das Ziel der Apostel. Jeder Einzelne, alle jüdischen Brüder, die ἀδελφοί, sind gerufen, die Christusbotschaft anzunehmen, so verkündigt es Petrus. Deshalb wiederholt Lukas die entsprechenden Indefinitpronomina πάντες und ἕκαστος, ein Echo, das sich wie ein roter Faden durch das Kapitel zieht.

Lukas markiert an mehreren Stellen inhaltliche Bezüge dadurch, dass er bestimmte Lexeme wiederholt, wie etwa das erwähnte Verb ἀποφθέγγομαι für die Aussagen der vom Heiligen Geist erfüllten Jünger und in der Einleitung zur Rede des Petrus.

Zu Beginn heisst es von den Jüngern, sie seien „alle als Gemeinde beisammen“ gewesen, πάντες ὁμοῦ ἐπὶ τὸ αὐτό. In der Schilderung des Gemeindelebens findet sich ein doppeltes Echo dieser Anfangsaussage, das die innige Verbundenheit der Christen hervorhebt, nämlich die zweifache Verwendung der schwer wiederzugebenden Wendung ἐπὶ τὸ αὐτό (in der Gemeinde, zusammen mit den anderen Christen)[30]: 2,44: πάντες ... ἐπὶ τὸ αὐτό und 2,47, als abschließende Worte des ganzen Kapitels). „Alle aber hielten zusammen und hatten alles gemeinsam.“ (V. 44) – „Der Herr aber fügte täglich solche, die zur Rettung gelangten, zur Gemeinde hinzu.“ (V. 47)

Während Lukas in V. 41 für den Gemeindezuwachs die Passivkonstruktion mit dem Prädikat προσετέθησαν wählte, ist jetzt ,der Herr‘,ὁ Kύριος‘, Satzsubjekt. Zurück auf Joel (V. 21) deutet dieser Verweis und auf die Aufforderung des Petrus „Lasst euch aus diesem verdorbenenen Geschlecht herausretten!“ (V. 40). Erneut, wie bei dem Ausgangspunkt des ganzen Kapitels, der Herabkunft des Heiligen Geistes, verdeutlicht Lukas: Gott ist es, der handelnd in die Geschichte der christlichen Gemeinde eingreift.


[1] Vgl. C. Wurm, Glaubwürdig: Die Apostelgeschichte. Lukas, der erste christliche Historiker, Witten/Gießen 2020, S. 94f.

[2] Das Neue Testament und die Psalmen, Gießen/Basel, 15. Aufl. 1999, S. 309. Die Hervorhebung von mir.

[3] Zur Übersetzung vgl. Anm. 30.

[4] R. Riesner, „Das Jerusalemer Essenerviertel und die Urgemeinde“, ANRW II.26.2, S. 1775-1922, hier: S.1841.

[5] Riesner, a.a.O., passim.

[6] E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK III, Göttingen 1977, S. 170.

[7] Der Vergleich bei K. Haacker, Die Apostelgeschichte (ThKNT 5), Stuttgart 2019, S. 48.

[8] J. Taylor: Die Spötter „perceive only a confusion of ecstatic or (they suspect ) drunken voices“. Classics and the Bible. Hospitality and Recognition, London 2007.

[9] Vgl. dazu D. Gooding, True to the Faith. The Acts of the Apostles: Defining and Defending the Gospel, Coleraine 2013 (1990), S. 69, Anm. 13.

[10] Albrecht 1999, S. 319, Anm. 5.

[11] Taylor 2007, S. 134

[12] Ebd.

[13] Was ist Sprache? München 2008, S. 68. Kursive Hervorhebungen im Original.

[14] So wie ὥσπερ zur Markierung uneigentlicher Rede bei Platon verwendet wird.

[15] Zum umgekehrten Verfahren, der Entlastung von Reden durch den Erzähler der Apostelgeschichte, vgl. Wurm 2020, S. 125-129.

[16] Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von A. D. Baum in Einleitung in das Neue Testament. Evangelien und Apostelgeschichte, Gießen 2017, Kap. VIII, „Die Redewiedergabe in der Antike”, S. 358-369.

[17] Vgl. 26,25-26, wo Paulus in seiner Rede vor Festus mit demselben Verb – und aus demselben Grund – seine Freimut in der Verkündigung der Wahrheit betont.

[18] Denkbar, nicht zwingend ist die ergänzende Deutung, Petrus meine: In Eurem (=konkreten) Sinne sind sie nicht trunken, wohl aber von dem Geist, den Joel weissagte. Vgl. dazu die Darstellung bei Haacker 2019, S. 55.

[19] „Wenn Petrus nicht nur Joël 3,1-2, sondern auch 3,3-5 zitiert, so will er damit nicht zum Ausdruck bringen, dass jetzt Weltende und Weltgericht unmittelbar bevorstehen. (...) Wenn er doch fünf Verse anführt, so tut er es nur, weil der letzte Vers mit seiner Verheißung der Rettung für jeden, der den Namen des Herrn anruft, für den Schluss seiner Rede mit der Aufforderung an die Hörer (V. 40: ,lasst euch retten‘) ihm sehr gelegen kommt.“ A. Wikenhauser, Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt, Regensburg 4. Aufl., 1961, S. 43.

[20] Ebd.

[21] Haacker 2019, S. 58.

[22] So ist die Anrede Ἄνδρες Ἀθηναῖοι zu Beginn der Areopagrede Apg. 22 mit Bedacht gewählt, als Anklang an die Anrede des Sokrates an den athenischen Gerichtshof. „ ἄνδρες δικασταί“ reserviert Sokrates für diejenigen, die für seinen Freispruch gestimmt haben, ein in der Antike berühmtes Beispiel für die pointierte Wahl der Anrede. Ein weiteres: Caesar, so berichtet Sueton (Caes. 70), brachte 47 v. Chr. meuternde Soldaten mit der Anrede Quirites statt (Com)militones zur Räson. Das eine Wort kündigte ihnen die Kameradschaft auf.

[23] Nicht: „Liebe Leute!” So bei Haacker 2019 in seiner Übersetzung von 2,19 und von 2,37, S. 54.

[24] E. J. Schnabel, Urchristliche Mission, Witten/Gießen 2018 (2002), S. 395.

[25] D. Peterson, The Acts of the Apostles, Grand Rapids/Nottingham 2009, S.133. Hervorhebung im Original.

[26] R. Riesner, Messias Jesus. Seine Geschichte, seine Botschaft und ihre Überlieferung, Gießen/Witten 2020, S. 216.

[27] N. Scholl, Lukas und seine Apostelgeschichte. Die Verbreitung des Glaubens, Darmstadt 2007, S. 35.

[28] W. Dahlheim, Die Welt zur Zeit Jesu, München 2014 (2013), S. 91.

[29] Plümacher, E., Lukas als hellenistischer Schriftsteller, Studien zur Apostelgeschichte, Göttingen 1972, S. 108.

[30] B. M. Metzger, B. M., A Textual Commentary on the Greek New Testament. Stuttgart, 2. Aufl. 2011 (1994), S. 264f. und R. L. Omanson, A Textual Guide to the Greek New Testament, Stuttgart 2006, S. 222f., schlagen sowohl für 2,1 als auch für 2,47 vor ,in the community‘ (Omanson) und ,in church fellowship‘ (beide).

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