Hamburger-Icon
Literatur
Text 30 Min.

Dostojewski - Prophet des 20. Jahrhunderts

Eine Einführung in das Leben und Werk Fjodor Dostojewskis.

Der französische Philosoph Albert Camus schrieb im Jahr 1959:

„Lange Zeit hat man Marx für den Propheten des 20. Jahrhunderts gehalten. Heute weiß man, dass das, was er prophezeite, auf sich warten ließ, und wir erkennen, dass Dostojewskij der wahre Prophet war. Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen. Ich war 20 Jahre alt, als ich dem Werk Dostojewskijs begegnete, und die Erschütterung, die mich damals ergriff, hält heute, nach mehr als weiteren 20 Jahren, noch an. Ich habe Dostojewskij zuerst lieben gelernt, weil er mir die Geheimnisse des menschlichen Wesens enthüllte, aber sehr schnell, in dem Maße wie ich das Drama meiner Zeit immer grausamer erlebte, habe ich in Dostojewskij den Menschen lieben gelernt, der am tiefsten unser geschichtliches Schicksal erlebt und ausgedrückt hat. Für mich ist in erster Linie Dostojewskij der Schriftsteller, der lange vor Nietzsche den zeitgenössischen Nihilismus erkannte, definierte und seine ungeheuerlichen oder wahnwitzigen Folgen voraussah, und der versuchte, die Botschaft des Heils zu bestimmen. Der Mann, der geschrieben hatte: die Fragen nach Gott und nach der Unsterblichkeit sind dieselben wie die Fragen des Sozialismus, nur aus einem anderen Blickwinkel gesehen, der wusste, dass von diesem Augenblick an unsere Zivilisation dieses Heil für alle oder für niemanden fordern würde. Aber er wußte auch, daß dieses Heil nicht allen zuteil werden konnte, wenn man darüber die Leiden auch nur eines einzigen vergaß.“

Vielen geht es wie Camus: sie sind betroffen, wenn sie sich in Dostojewskijs Werken wiedererkennen – in ihrer Zerrissenheit, in ihrer Sehnsucht nach Freiheit, in ihrer Erschütterung über Leid und Erniedrigung anderer. Und weiter ist der Leser verblüfft darüber, wie ein Mensch im letzten Jahrhundert vorhersehen konnte, wie sich dieses Jahrhundert entwickeln würde. Dostojewskij hat prophetisch von der „Heraufkunft des Nihilismus“ gesprochen, und er hat versucht, darauf eine Antwort zu finden: wie in einer nihilistischen Zeit der Mensch heil werden kann.

Es gibt kaum einen anderen Schriftsteller, der die Denker des 20. Jahrhunderts – Literaten, Philosophen, Theologen – so stark beeinflusst hat wie Dostojewskij. Vor einigen Jahren sagte Solschenizyn in einer Rede zu einer Preisverleihung, dass es im 19. Jahrhundert wohl niemanden gegeben habe, der die totalitären Staaten dieses Jahrhunderts so deutlich vorhergesehen hat wie Dostojewskij.

Aus Dostojewskijs Werken wissen wir, dass sein Denken stark vom Neuen Testament geprägt war. Dessen Lektüre hat ihn sein ganzes Leben begleitet. Auf dem Weg in die Katorga bekam Dostojewskij 1850 in Omsk ein Neues Testament geschenkt. In der Haft war es das einzige Buch, das zur Lektüre freigegeben war. Von diesem Exemplar hat sich Dostojewskij bis zu seinem Tod nicht getrennt. Hier fand er Antworten auf die Fragen, die ihn sein Leben lang begleiteten: Wie denn der Mensch in dieser Welt leben kann? und: Ob es Heil gibt angesichts aller Zerrissenheit? Auch finden sich zentrale Themen des NTs in Dostojewskijs Werken. Vier solcher Themen möchte ich nennen und kommentieren.

Vom Zweifel zum Glauben

Einer der Ausleger Dostojewskijs, Michail Bachtin, charakterisierte sein Werk als „vielstimmig“, d. h. dass auch nicht- oder antichristliche Positionen formuliert werden, und zwar nicht als Karikaturen. Gerade das hat Denker wie Camus oder Nietzsche angezogen: Sie wussten sich ernst genommen und verstanden.

Dostojewskij selbst hat in seinem Leben Zweifel erlebt: intellektuellen Zweifel, vor allem aber existentiellen Zweifel. Das Erleben der inszenierten

Hinrichtung in St. Petersburg, die Haftjahre in Sibirien, eine schwere Erkrankung (Epilepsie) und nicht zuletzt der frühe Tod seiner ersten Frau und zweier seiner Kinder haben ihn stark geprägt. Diese Leiderfahrungen musste und wollte er zusammendenken mit seinen Vorstellungen von Gott, von Jesus Christus, von der Auferstehung.

Die Frage des Atheismus ist für ihn allerdings weniger eine Frage des Zweifels als vielmehr der Gleichgültigkeit. In Die Dämonen (auch: Böse Geister) beispielsweise wird zweimal ein Wort aus der Offenbarung zitiert: „Daß du heiß oder kalt wärest, du bist aber lau.“ Diese Lauheit, Gleichgültigkeit, ist das eigentliche Problem des Menschen. Zentral für Dostojewskijs Haltung an diesem Punkt sind Nathanael und Thomas, die beiden Zweifler aus dem Johannesevangelium. Christus tadelt ihren Zweifel in keiner Weise. Auf Nathanaels skeptische Frage „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ antwortet ihm Jesus: „Du bist ein wahrer Israelit ohne Falsch!“ Weder Nathanael noch Thomas sind gleichgültig. Als sie die Wahrheit über Jesus erkennen, lassen sie sich überzeugen.

Gespaltenheit des Menschen

Wie kann ein gespaltener Mensch heil werden? Das ist die grundlegende Frage Dostojewskijs, die sich nicht nur im Doppelgänger stellt. Raskol – Raskolnikow – heißt eigentlich: der Abgespaltene, abgespalten von seiner Familie, seinem Volk und auch von seiner Kirche. Wenn Dostojewskij von der Heilung eines gespaltenen Menschen berichtet, dann gehen diesem Heilungsprozess immer Reue und Buße voraus.

Die wesentliche Botschaft des Starez Sosima in Die Brüder Karamasow ist: Der Mensch darf niemals die Fähigkeit zur Reue verlieren. Ein Mensch, der seine Lebenslüge nicht ablegen will, dem kann nicht mehr geholfen werden. Er kann nicht mehr zu Gott, der die Menschen liebt, umkehren.

Interessant bei der Darstellung der Personen Dostojewskijs ist, dass die Umkehr in Reue von jedem Punkt des Lebens aus möglich ist, egal, wie verfahren die Situation, wie groß die Schuld auch ist. Manche der Familiengeschichten in Dostojewskijs Romanen sind ja außerordentlich verkorkst. Die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sind z. T. kaum noch Beziehung zu nennen. Die Hauptpersonen sind Anfang bis Mitte Zwanzig, ein Alter der Lebensentscheidungen. Aber auch bei älteren Menschen ist noch eine Umkehr denkbar, manchmal kurz vor ihrem Tod.

Stawrogin – nach Thomas Mann die rätselhafteste Figur der Weltliteratur – ist ein zutiefst gespaltener Mensch: Er zieht andere Menschen an, hat eine starke Wirkung auf sie, ist aber unfähig, sich zu ändern, Reue zu empfinden, einen Menschen zu lieben, sich an ihn zu binden. Ein entwurzelter Skeptiker, der im Selbstmord endet.

Eine Begebenheit aus dem Leben Dostojewskijs – eigentlich eher von seinem Sterben –, die sein Denken über Umkehr noch einmal ganz deutlich werden lässt, unterstreicht dies: Als Dostojewskij fühlte, dass er bald sterben würde, rief er Frau und Kinder zu sich und ließ ihnen das Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15) vorlesen – als Vermächtnis gewissermaßen. Seine Auslegung dazu: Eltern lieben ihre Kinder, aber Gott liebt uns noch mehr, als Eltern ihre Kinder lieben können. Umkehr zu Gott ist von jedem Punkt unseres Lebens möglich, egal, wie weit wir uns von ihm entfernt haben.

Die Freiheit des Menschen

Reue und Umkehr sind eine Frage der eigenen Entscheidung – d. h. auch der Freiheit des Menschen. Es ist in die Freiheit eines Menschen gestellt, ob er weiter in seiner Lebenslüge verharren will oder nicht.

Innerhalb dieser Lebensentscheidungen gibt es nach Dostojewskij eine wichtige Frage, vor der jeder Mensch steht, nämlich ob er seine Idee vom Leben bewahren will oder aber ob er sich auf die Suche nach dem echten Leben machen will. Vielleicht hat ein Mensch ein gedankliches System entwickelt, wie er die Welt sehen, in ihr leben und sie möglicherweise auch verändern will. Verharrt er ohne Seitenblick stur in diesem System – dann wird er dem wahren Leben nicht begegnen. Ein Gegenbeispiel ist Raskolnikow in Schuld und Sühne (auch: Verbrechen und Strafe). Aus der Begegnung mit Sonja, die ihn liebt, schöpft er Kraft zum Neuanfang, zum Leben.

Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist auch, dass der Starez Sosima (Die Brüder Karamasow) keine Ideen, keine Theorie weitergibt, sondern Geschichten, Lebensgeschichten erzählt. Die Antwort auf die Frage nach dem Leid der Welt und der Liebe Gottes wird nicht in der Theorie gegeben, sondern in Vorbildern, in Menschen, die trotz Leid und Hoffnungslosigkeit leben.

Auch das Zentrum des Neuen Testaments sind nicht theoretische Antworten, sondern das Leben, Sterben und die Auferstehung Jesu von den Toten.

Eine weitere Lebensentscheidung, die jeder Mensch zu treffen hat: Ob er als Mensch Gott werden will – oder ob er akzeptieren will, dass Gott Mensch geworden ist – für ihn. Ein Konflikt, in jedem Leben: sein zu wollen wie Gott. In den großen Werken Dostojewskijs gibt es fast immer einen Mord, nach Berdjajew wird in der Ermordung eines anderen Menschen am stärksten der Gedanke ausgedrückt: Ich bin Herr, ich habe die Macht, dieses Leben zu beenden – nicht Gott. Im Verbrechen setzt sich der Mensch an die Stelle Gottes.

Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt

Diese These Dostojewskijs hat Jean-Paul Sartre so fasziniert, dass er sie zum Ausgangspunkt des Existentialismus gemacht hat. Der Mensch, der davon ausgeht, dass es keinen Gott gibt, kann z. B. die Menschheit in zwei Gruppen einteilen. Nämlich in die Menschen, die herrschen, und diejenigen, die beherrscht werden, vielleicht sogar freiwillig ihre Freiheit aufgeben und sich gerne unterwerfen lassen. Am klarsten ist diese Unterscheidung dargestellt in Schuld und Sühne, aber auch in der Person des Schigaljew in Die Dämonen. Er stellt die Theorie einer sozialen Gesellschaft auf und will – anfänglich – Freiheit für alle. Aber, so sagt er resigniert, das Leben ist nicht anders zu organisieren als so, dass 10 % herrschen über 90 %. Diese 90 % wollen vielleicht sogar diese Machtverteilung. Sie, so heißt es an einer Stelle in den Dämonen, freuen sich ja, wenn es Glaspaläste gibt, Volkstanz und Konzerte – mehr wollen sie gar nicht.

Wenn es keinen Gott gibt, dann kann man auch ein paar Millionen Menschen, die dem Aufbau einer besseren Gesellschaft im Weg stehen, beseitigen. Es geschieht ja im Blick auf ein höheres Ziel.

„Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.“ Das ist ein Gedanke, der in Dostojewskijs Werken immer wieder durchgespielt wird. Wenn man z. B. diese wirklich verhasste Pfandleiherin (Schuld und Sühne) umbringt – wie viel Gutes könnte man nicht mit ihrem Geld tun! Diese Frau kann man nicht Mensch nennen, sie ist eine Laus.

Für Dostojewskij ist der Mensch Gottes Schöpfung, nach seinem Bilde geschaffen. Und deshalb darf man einen anderen Menschen nicht als Mittel einem noch so guten Zweck opfern. In jedem Menschen, und mag er noch so korrumpiert, noch so tief gesunken sein, spiegelt sich Gottes Bild wider. Von daher hat der Mensch seine Würde, trotz seiner Schuld. Andere haben nicht das Recht, ihn nach seiner Nützlichkeit oder gar nach der Nützlichkeit seines Todes zu bewerten.

Für Dostojewskij ist die Person Christi und die Tatsache seiner Auferstehung das Zentrum des Evangeliums. Entweder ist Christus auferstanden – oder ich begehe Selbstmord. Die Helden Dostojewskijs leben zwischen diesen Extremen, die konsequenten unter ihnen, nicht alle, kommen entweder zu Christus oder begehen Selbstmord. Dass es nicht alle tun, hängt mit etwas zusammen, was Camus so formuliert hat: „Es ist leicht, logisch zu sein; aber es ist schwer, logisch zu sein bis zum Ende.“

Die Auferstehung Christi ist der Eckstein des Glaubens bei Dostojewskij, Christus ist also nicht nur ein Vorbild im ethischen Handeln, er ist Sieger über den Tod. Das Evangelium öffnet sich Dostojewskij als ein Buch über die Auferstehung. Alle Tragik und Absurdität des Lebens sieht er in der Auferstehung überwunden. Die Auferstehung hat stattgefunden in der Geschichte, und sie hat Heilsauswirkung bis in die Gegenwart hinein. Was könnte man – innerhalb der Grenzen dieses Weltgeschehens – Iwan Karamasow antworten, der angesichts des Todes kleiner Kinder seine Eintrittskarte in diese Welt zurückgeben will? In dieser Welt wird das Leid nicht aufgehoben, in ihr gibt es keine Antwort – die einzig mögliche Antwort ist die Tatsache der Auferstehung Jesu. Diese Welt mit allem Leid ist nicht alles. Das Leid ist eine Folge des Abfalls von Gott und die Auferstehung Jesu ist ein neues Kapitel der Geschichte Gottes mit dem Menschen.

Das Leben beginnt für Raskolnikow mit der Lektüre des Neuen Testaments, denn das Evangelium ist das Buch, in dem wir Christus begegnen und in ihm das Leben finden. Davon war Dostojewskij überzeugt.

Ähnliche Artikel