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Weltanschauungen
Text 35 Min.

Glaube und Kultur

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Unter dem Einfluss der Reformation und der Aufklärung, die jeweils als Befreiung aus der Bevormundung durch die römische Kirche empfunden wurden, begann eine rasche kulturelle Entwicklung der europäischen Gesellschaften, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in breitem Konsens als Beginn eines neuen Zeitalters, der Moderne, wahrgenommen wurde, und folgende prägende Merkmale zeigte:

Individualismus:
Das Individuum als einmaliges, vernunftbegabtes Geschöpf Gottes bekam einen besonderen Stellenwert und sollte sein Potenzial möglichst ungehindert entfalten. Dieses besondere Merkmal der Moderne wurde von den meisten nichtwestlichen Kulturen nicht oder nur teilweise nachvollzogen.

Rationalismus:
Die Befreiung des Denkens von der Bevormundung durch die Kirche brachte den Siegeszug der europäischen Naturwissenschaft hervor, die bald die Führungsrolle übernahm, die vorher stets die Theologie gehabt hatte.

Descartes erklärte schließlich mit seinem berühmten Satz „Cogito ergo sum“ die menschliche Vernunft zum Hauptkriterium des Menschseins. Die Wissenschaft wurde mehr und mehr zur einzig verlässlichen Wissensquelle objektiver Wahrheit, und es kam zu einer generellen Abwertung alles Nicht-Rationalen wie Gefühlen, Werten und Glaubensüberzeugungen.

Materialismus und Säkularisierung:
Im öffentlichen Denken unterschied man bald zwischen der realen materiellen, mit der Vernunft erforschbaren und beherrschbaren Welt und der eher spekulativen „übernatürlichen“, in der man Gott, Geister, Engel, Dämonen, aber auch Feen und Märchenfiguren angesiedelt sah, und an die man glauben konnte oder nicht.

Entzauberung der Welt:
Bald war im öffentlichen Denken auch kein Raum mehr für unsichtbare Realitäten. Alles Erleben wurde reduziert auf rational Erklärbares. Es entstand ein Glaubensvakuum im westlichen Denken, Soziologen sprechen von einer „Entzauberung der Welt“. Dabei wurde Gott nicht bekämpft und man blieb in der christlichen Tradition – aber er wurde zunehmend irrelevant für das Leben im Alltag!

Naiver Realismus-Positivismus:
Der Denkrahmen des modernen wissenschaftlichen Materialismus war der sog. Naive Realismus oder Positivismus: Man nahm an, dass es eine reale materielle Wirklichkeit außerhalb des menschlichen Geistes gibt, die man durch objektive Forschung erkennen kann, allerdings nur auf strikt rationalem Wege. Dabei ging man davon aus, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse bei korrekter Vorgehensweise diese objektive Realität exakt abbilden.

Ziel aller Wissenschaft war es, universal gültige Gesetzmäßigkeiten zu finden und zu einer zusammenhängenden Theorie oder Metanarrative zusammenzufügen, die dann zum Segen für die gesamte Menschheit genutzt werden sollte. Dieser Denkrahmen gab Sicherheit und Zuversicht, führte allerdings auch zu einer Haltung des Dogmatismus. Raum für Ambivalenzen und Toleranz für Andersdenkende konnte es in diesem Rahmen kaum geben.

Griechischer Denkstil:
Die moderne Denkweise folgte der des Aristoteles: Man sah das Universum wie auch den Menschen als Maschine, die man durch systematische Beobachtung und logische Analyse erforschen konnte. Dazu zerlegte man sie in kleinste Einheiten, um deren kausales Zusammenspiel zu erfassen und damit das Funktionieren des Ganzen zu erschließen. Man leitete allgemeine Gesetzmäßigkeiten ab, die dann durch prägnante Formeln und Definitionen möglichst exakt auf den Punkt gebracht wurden.

Diese kontextfreie, analytischabstrakte Art zu denken hat die Kulturen des westlichen Abendlandes sehr geprägt und wird vielfach von Nichtwestlern, die eher kontextbezogen, ganzheitlich und synthetisch denken, weder geteilt noch verstanden. Ein weiteres aristotelisches Erbe im westlichen Denken ist das Bedürfnis zu ordnen, zu kategorisieren und Rangordnungen zu bilden. Dabei sind die Kategorien der Moderne unzweideutig und statisch. Das gilt für Wissensgebiete, für Lebensbereiche und Denkkonzepte ebenso wie für Menschen. In solchem Denken bleibt wenig Raum für Unschärfen des Lebens und wenig Weisheit, mit Widersprüchen und Paradoxen umzugehen.

Betonung juristischer Kategorien und Konzepte:
Angelehnt an das römische Konzept von der „Herrschaft des Gesetzes“ ging man im modernen Denken davon aus, dass es im Universum nicht nur Naturgesetze, sondern auch unpersönliche Moralgesetze gibt. Während im hebräischen Denken die Gebote Gottes nicht von seiner Person zu trennen sind und Gerechtigkeit ein Beziehungsbegriff ist, geht es im modernen Denken um Gerechtigkeit im Sinn des Einhaltens von unpersönlichen Gesetzen. Die Sicht des modernen Christen vom Gesetz Gottes wurde von diesem Konzept geprägt und dementsprechend hat sich in der westlichen Christenheit ein schuldorientiertes Gewissen ausgeprägt, das auf die Übertretung von Geboten reagiert, und ein Denken, das auch geistliche Wahrheiten bevorzugt in juristischen Kategorien betrachtet.

Entsprechend den Leitmotiven der Moderne kam es zur Veränderung der Gesellschaft im Sinne einer zunehmenden Individualisierung, Rationalisierung und Differenzierung. Es entstand eine auf Bildung, Leistung und Effizienz gegründete technisch-ökonomisch orientierte Gesellschaft, durch Gesetze und Verwaltungssysteme perfekt geordnet und in ihrer Funktion einer Maschine vergleichbar.

Dazu passte die „protestantische Arbeitsethik“ (Max Weber): Leistungsorientierte Attribute wie Disziplin, Fleiß, Leistung und Erfolg wurden mit Gottes Segen in Verbindung gebracht und wurden zu herausragenden Werten der Moderne. Gesellschaftliche Systeme verfestigten sich, Ordnung, Hierarchien und klare Regeln bekamen zunehmende Bedeutung, die Zeit wurde zum Wert an sich, dem sich andere Werte unterordnen mussten. Während für die Menschen der westlichen Welt in ihrem „Kulturoptimismus im christlichen Gewand“ (Egelkraut 1999) solche Werte und Strukturen als Garanten des Fortschritts empfunden wurden, sind sie für Menschen aus nichtwestlichen Kulturen, deren Werte vor allem beziehungsorientiert sind, bis heute eine große Herausforderung geblieben.

Das Christentum der Moderne Dass Kultur den Glauben prägt, zeigt sich an den Spuren der beschriebenen Kulturzüge im Christentum der Moderne: Dem Rationalismus wurde Rechnung getragen, indem Theologie als Wissenschaft unter der Herrschaft der Vernunft betrieben wurde.
Die historisch-kritische Forschung mit der „Entmythologisierung“ der Schrift kann als typisches Kind der Moderne angesehen werden. Das Denken im griechischen Stil hat auch moderne Methoden des Bibelstudiums geprägt. Westliche Christen lesen die vielfach narrativen Texte der Schrift mit einem analytisch-abstrakt denkenden Verstand, suchen Prinzipien und ordnen biblische Wahrheiten in Lehrsysteme ein, auch wenn auf diese Weise scheinbare Widersprüche zum Glaubenshindernis werden.

Ziel theologischen Denkens ist, ein möglichst vollständiges, logisches, widerspruchsfreies Bild von der Wahrheit zu zeichnen. Theologische Wahrheiten werden in Bekenntnisse verdichtet, anhand derer Menschen in theologische Lager eingeordnet werden. Die systematische Theologie ist eine fast ausschließlich westliche Angelegenheit, die in nichtwestlichen Kulturen von untergeordneter Bedeutung ist. Dort wird die Schrift eher als inspirierte Geschichte gelesen, deren unmittelbare Bedeutung für die Lebenspraxis gesucht wird. Die Vorherrschaft der Vernunft wird auch in modernen Gottesdiensten deutlich: Bibelarbeiten und Predigten stammen meist aus „Lehrtexten“. Ihnen liegt eine gründliche Textanalyse zu Grunde und sie folgen einer sauberen Logik.

Inhaltlich spielen vor allem juristische Kategorien wie Gerechtigkeit, Schuld und Sühne eine zentrale Rolle. Dass der Glaube in der Schrift vor allem in Beziehungskategorien dargestellt wird, findet – anders als in anderen Kulturen – in der westlichen Moderne keinen großen Widerhall. Die Zeitorientiertheit der Gottesdienste und die große Bedeutung von Strukturen und Programmen in der Gemeinde Jesu sind ebenfalls Kultureinflüsse der Moderne, ebenso wie die Unterbewertung von Emotionen und körperlichen Elementen im modernen Gottesdienst. Auch der Denkrahmen des naiven Realismus machte sich in der Gemeinde Jesu bemerkbar: Erbitterte Auseinandersetzungen um die rechte Lehre und Bibeltreue prägen die westliche Christenheit seit langer Zeit. Das Phänomen des Fundamentalismus ist auf ein Denken in diesem Rahmen zurückzuführen, ebenso wie der theologische Imperialismus, der vielfach von westlichen Institutionen ausging und nichtwestlichen Christen bis heute zu schaffen macht.

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