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Weltanschauungen
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Männer, Frauen und …? Geschlechtertheorien im Widerstreit

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Wenn wir heute in den Ländern der westlichen Welt über Geschlechterrollen diskutieren, dann tun wir dies aus einer komfortablen Situation heraus. Komfortabel deshalb, weil Männern und Frauen in unserer Gesellschaft vom Gesetz her gleiche Würde und gleiches Recht zukommt. Dass Frauen und Männer, ja, Menschen überhaupt, nicht in jeder Hinsicht gleich sein müssen, um als gleichwertig zu gelten, dürfte heute zumindest im Grundsatz weithin anerkannt sein. Dabei übersehen wir leicht, wie weit der Weg zu dieser Einsicht war und dass auch die Kirchen immer wieder dazu geneigt haben, bestimmte gesellschaftliche Zustände als von Gott so gewollt zu interpretieren – und daher unabänderlich. Vergegenwärtigen wir uns daher zunächst in aller Kürze, woher wir kommen.1 Mit dem Schlachtruf der Französischen bürgerlichen Revolution von 1789 „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ wurde – unter erheblichem Blutvergießen – eine Gesellschaftsordnung hinweggefegt, in der ererbter Stand und soziale Schichtenzugehörigkeit über das Schicksal eines Menschen entschieden. Waren alle Menschen zumindest im Angesicht des Todes gleich, so galt dies nicht für ihr Leben. Die Gesellschaft war wie eine Pyramide aufgebaut, an deren Spitze Gott stand, dessen Herrschaft sich in der Person des Königs widerspiegelte und dessen Autorität, vermittelt durch die verschiedenen Machtebenen, bis in das letzte Haus in seinem Reich durchgesetzt wurde.

Mit den bürgerlichen Revolutionen in Europa setzte sich die Vorstellung der angeborenen Gleichheit aller Menschen gegen die Idee einer hierarchischen Ordnung der Gesellschaft durch. Das Wort „Gleichheit“ umfasste allerdings bei Weitem noch nicht alles, was heute darunter verstanden wird. Denn selbst die im Vergleich zu Deutschland radikale Französische Revolution erweist sich im Rückblick eher als eine „Männerrevolution“, wurden doch Menschenrechte zunächst als Männerrechte durchgesetzt. Dagegen regte sich zwar bereits 1790 Widerstand, als die Frauenrechtlerin Etta Palm d’Aelders die Revolutionäre in einem Manifest daran erinnerte: „Wir sind Eure Gefährten, nicht eure Sklaven“.2 Die Menschenrechte seien unteilbar und dürften deshalb auch Frauen nicht vorenthalten werden. Dennoch blieben die unter dem Einfluss der Aufklärung stehenden Staaten Europas zunächst noch weit von der Gleichberechtigung entfernt – nicht, weil Aufklärer wie zum Beispiel Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) den Gedanken der Gleichheit ignoriert hätten, sondern weil sie ihn auf eine bestimmte Weise interpretierten.

Warum konnten sich selbst unter der Parole von Freiheit und Gleichheit Geschlechterverhältnisse etablieren bzw. halten, die wir heute als ungerecht bezeichnen? Dazu müssen wir uns klarmachen, welche Vorstellungen von Gleichheit im Zuge der vorrevolutionären Aufklärung vertreten wurden.3

Der Gedanke der Gleichheit aller Menschen wurde zunächst einmal aus dem Naturrecht gewonnen. Gemeint ist ein dem menschlichen Recht vorausliegendes Recht, das über viele Jahrhunderte mit der Gerechtigkeit Gottes begründet wurde. Nun wurde es von den Aufklärern rationalisiert; d.h., dass nicht Gott, sondern die menschliche Vernunft zum Grund und Garanten dieses Naturrechts erklärt wurde. Von der Vernunft aber gilt in der Aufklärung, dass sie kein Geschlecht kennt, und das bedeutet, dass kraft der ihnen eigenen Vernunft alle Menschen gleicher Würde und gleichen Rechts sind.

In vielen Naturrechtskonzeptionen wird diese uneingeschränkte Gleichheit jedoch nur für den (utopischen) Naturzustand des Menschen angenommen, nicht für die Menschen als Kulturwesen, die sich in Gesellschaften organisieren, wie wir sie kennen. Der Naturzustand meint hier keinen historisch greifbaren Urzustand, sondern soll als theoretisches Prinzip erklären, warum es notwendig zur Bildung von Gesellschaften kommen musste. Die menschliche Natur machte dieser Theorie zufolge die Bildung von Gesellschaften nötig; an ihrem idealen (nicht geschichtlichen) Anfang steht der Abschluss eines Gesellschaftsvertrags, der dazu dient, die Unsicherheiten des Naturzustandes zu überwinden, genauer: Frieden, Freiheit und das Eigentum der Menschen zu sichern.

Die Konstruktion des Gesellschaftsvertrags erlaubt den Aufklärern zufolge aber durchaus die Anerkennung von Ungleichheit, z.B. die zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Daraus folgt, dass als Gleiche nur solche Individuen in Betracht kommen, die über Eigentum verfügen. Nur derjenige Mensch hat nach John Locke (1632–1704), einem wichtigen Philosophen der Aufklärung, einen Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und den uneingeschränkten Genuss aller bürgerlichen Rechte, der imstande ist, „für sich selbst zu sorgen“.4 Damit schied die verheiratete Frau aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten aus – und der Ehestand war damals die Regel. Denn als Ehefrau unterstand sie der Herrschaft ihres Mannes. Im Ehevertrag räumte die Frau damals „ihrem Mann die eheliche Gewalt ein und [war] ihm damit zu Gehorsam, der Mann zu ihrem Schutz verpflichtet“.5

Insofern markiert die Französische Revolution von 1789 in der Geschichte des Gleichheitsgedankens einen Wendepunkt: Gleichheit wird nun zu einem Rechtsbegriff, aus dem sich konkrete politische Forderungen ableiten lassen. Auch wenn noch viele Jahrzehnte vergehen sollten, bis diese Forderungen tatsächlich in geltendes Recht umgesetzt würden, wurden hier die Voraussetzungen dafür geschaffen und die Gleichheit vor dem Gesetz zum wesentlichen Prinzip des Rechtsstaates erklärt.

Die Proklamation dieses Prinzips u.a. in der deutschen bürgerlichen Revolution von 1848 richtete sich gegen Standesprivilegien (v.a. des Adels und der Geistlichkeit). Doch der tradierte Vorrang der Haus- bzw. Familienväter blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein unangetastet. Der Ehemann besaß die volle Gewalt und Entscheidungsbefugnis über seine Frau und die Kinder. Er verfügte über das gemeinsame Eigentum, musste einem von der Ehefrau geschlossenen Arbeitsvertrag zustimmen und konnte ihn auch wieder auflösen. Er allein hatte das Recht zu entscheiden, welche Bildung Frau und Kindern zuteilwerden sollte.

Das Bürgerliche Gesetzbuch, das am 1. Januar 1900 im Deutschen Reich in Kraft trat, zementierte diese Verhältnisse. Den Frauen wurde die Zuständigkeit für den häuslichen Bereich zugewiesen – eine Bestimmung, die schon damals die Lebenswirklichkeit nur der bessergestellten Familien beschrieb. Viele Frauen aus ärmeren Schichten mussten für den Unterhalt der Familie außer Haus arbeiten; in Berufen, die wenig gesellschaftliches Ansehen genossen und fast durchweg schlecht bezahlt waren. Die im 19. Jahrhundert entstehenden Frauenrechtsbewegungen nahmen grundlegend Anstoß am rechtlich verankerten Vorrang des Ehemanns und Familienvaters. Die Ablehnung der „patria potestas“, also der Autorität des Hausvaters, bildet historisch den Hintergrund für die feministische Kritik an dem im Kern patriarchalischen Zuschnitt von Ehe und Familie.

Frauen waren jedoch nicht nur im Zivilrecht benachteiligt, sondern auch aus der politischen Öffentlichkeit ausgeschlossen, sodass die Durchsetzung des Frauenwahlrechts im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Kernforderung der Frauenrechtsbewegung wurde. Insgesamt standen für die bürgerliche Emanzipationsbewegung mehr die kulturellen Rechte im Vordergrund (wie das Recht auf Bildung), während für die proletarische Bewegung die sozialen Rechte wichtiger waren (wie das Recht auf faire Arbeitsbedingungen, angemessenen, bezahlbaren Wohnraum und soziale Absicherung). Gemeinsam sahen sie als einen Schlüssel zur Durchsetzung dieser Rechte die Öffnung des Wahlrechts für Frauen. So ging es insgesamt darum, die Bürger- und Menschenrechte, die wir heute als selbstverständlich anerkennen, Frauen in gleichem Maße zuteilwerden zu lassen wie Männern.

Was genau die Gleichheit der Geschlechter bedeutet, darum gab es auch in der modernen Frauenbewegung von Anfang an unterschiedliche Auffassungen, die sich bis heute durch die Geschlechterdiskussion ziehen. Während die einen „die Zwänge und Zumutungen traditioneller Weiblichkeit“ ablehnten, sahen andere gerade die spezifisch weiblichen Erfahrungen wie das Muttersein als geeignet an, diese „zum Ausgangspunkt für emanzipatorische Politik“ zu machen.6 Der Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen war und ist daher, wie wir in diesem Kapitel noch genauer sehen werden, keinesfalls identisch mit der Absicht, das Muttersein abzuschaffen und die Geschlechter austauschbar zu machen. Vielmehr hat sich die von Anfang an nicht homogene Frauenrechtsbewegung im 20. Jahrhundert immer weiter ausdifferenziert und neben dem Differenzfeminismus (1.2.) auch den Gleichheitsfeminismus (1.3) und konstruktivistische Ansätze (1.4.) hervorgebracht.

Auch in der Gesellschaft bildeten sich unterschiedliche Ansätze heraus. So gilt die Einführung des Frauenwahlrechts unbestritten als Fortschritt, während auch unter Frauen das Recht auf Abtreibung umstritten ist. Auch das Beharren auf traditionelle Familienwerte galt und gilt den einen als reaktionäre Brauchtumspflege, während andere darin eine gesunde Anerkennung der natürlichen Grundbedingungen des Menschseins sehen.

Diese Vielschichtigkeit der historischen Entwicklungen wird in der erhitzten geschlechterpolitischen Diskussion häufig unangemessen vereinfacht. Dies hängt auch mit zwei Einschnitten in der deutschen Geschichte zusammen, deren Auswirkungen der geschlechterpolitischen Debatte zumindest in Deutschland Richtung und Schärfe gegeben haben. Der erste historische Einschnitt ist die sogenannte „Bevölkerungspolitik“ der Nationalsozialisten. Das NS-Regime förderte (letztlich kriegspolitisch motiviert) kinderreiche Familien und ehrte Mütter mit dem „Mutterkreuz“, die Führer und Reich viele Kinder schenkten. Dieser historische Kontext einer auf Geburtensteigerung zielenden Politik hat sich wie ein Schatten über die deutsche Geschichte gelegt. Auffassungen, welche die Bedeutung der Mutter für die Entwicklung des Kindes hervorheben und für die Aufwertung von Erziehungsleistungen eintreten, werden gerne durch die Unterstellung diffamiert, sie wollten die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik wiederbeleben. „Sie wollen also wieder das Mutterkreuz einführen“ – so lautet das ultimative Totschlagargument in der Debatte.7

Der zweite historische Einschnitt liegt in den Umbrüchen der 1970er-Jahre, oft auch als „sexuelle Revolution“ der „Achtundsechziger“ bezeichnet. Für die feministische Bewegung dieser Zeit stand (neben der Forderung nach freiem Zugang zu Verhütungsmitteln) die Legalisierung der Abtreibung ganz weit oben auf der Agenda. De facto (wenn auch wie in Deutschland nicht immer de jure) gelang es in den meisten westlichen Staaten, den straffreien Zugang zur Abtreibung durchzusetzen.

Die Geschichte des in den 1970er-Jahren angestoßenen gesellschaftlichen Wandels, der Frauen gemessen an allen früheren Geschichtsepochen einen erheblichen Freiheits- und Wohlstandsgewinn gebracht hat, wird nun bei Kritikern des Feminismus schnell auf die Ermöglichung des Schwangerschaftsabbruchs reduziert. Tatsächlich war (und ist) die vollständige Abschaffung des § 218 StGB eine der Kernforderungen des Feminismus der zweiten Welle (also der „Achtundsechziger“). Offensichtlich ist auch, dass an diesem Punkt ein (vermeintlicher) Freiheitsgewinn für Frauen mit der Preisgabe der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens erkauft wird.

Vielen Christen hat sich ins Bewusstsein eingebrannt, dass der Feminismus im Kern eine Positionierung gegen das Leben noch nicht geborener Kinder einschließt. Während die Mehrheitsgesellschaft es akzeptiert hat, dass Frauen de facto über ihren Bauch entscheiden können, machen sich Christen für das Lebensrecht der Ungeborenen stark. Dabei gerät gelegentlich aus dem Blick, dass nur die wenigsten Feministinnen sich an einer so grausamen Handlung wie der Abtreibung berauschen können (deren zweites Opfer ja eine von den Folgen des Eingriffs gezeichnete Frau ist). Vielmehr geht es ihnen um das Recht der Frau, sich – wie der Mann – der
ungewollten Folgen eines Sexualaktes entledigen zu können. Der Ausgangs­punkt ist also der Grundsatz der Geschlechtergerechtigkeit, keine Tötungsabsicht. Am Ergebnis ändert das freilich nichts: Bei jeder Abtreibung stirbt ein Kind, dessen Lebensrecht missachtet wird. Trotzdem bleibt die Frage, wie Frauen und Männer ihre Sexualität gestalten und für deren Folgen stehen.8

In der Geschichte der westlichen Staaten finden wir die Vorstellung verankert, dass das Leben sich nur in Ordnungen der Zugehörigkeit entfalten kann. Als grundlegende Ordnung der Zugehörigkeit in der Gesellschaft galt die natürliche, „trianguläre“ Familie, die (wie in einem Triangel bzw. Dreieck) aus Vater, Mutter und gemeinsamen Kindern besteht. Ihr konkreter Platz war durch die Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand bestimmt. Aufklärung und bürgerliche Revolutionen waren von der Vorstellung der Gleichheit aller Menschen beflügelt, ohne dass dies unmittelbar zur rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen geführt hätte. Im Fokus der Frauenrechtsbewegungen stand von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert an der Vorrang des (Ehe-)Mannes vor der Frau, der im Familienrecht erst in den 1970er-Jahren vollständig überwunden wurde.

Wenn heute von der immer noch nicht eingelösten Geschlechtergerechtigkeit gesprochen wird, dann bezieht sich diese Einschätzung weniger auf rechtliche Bestimmungen, sondern zielt auf die Beharrungstendenzen in der Gesellschaft, auch in freier Entscheidung eher traditionelle Rollenmuster zu leben. Die Forderung nach Einbindung der Frau in den Arbeitsmarkt und nach staatlicher Fremdbetreuung ihrer Kinder zielt, wie wir sehen werden, im Kern auf den Umbau der mehrheitlich gelebten (und akzeptierten) innerfamiliären Macht- und Rollenverhältnisse.

Doch es soll nicht darum gehen, die Früchte des Kampfes für die Gleichberechtigung pauschal verächtlich zu machen (und sie gleichzeitig in weiten Teilen zu genießen, wie es viele Kritiker tun, ohne sich dessen bewusst zu sein). Stattdessen will ich die guten und die schlechten „Früchte“ voneinander trennen, also berechtigte Anliegen von problematischen Überdehnungen unterscheiden und differenziert bewerten. Schauen wir uns daher zunächst einmal die wichtigsten feministischen Geschlechtertheorien genauer an, wie sie bis heute vertreten werden.

1.Für eine knappe Übersicht über die Frauenrechtsbewegung vgl. U. Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus.
2.Ebd., S. 15.
3.Vgl. U. Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung.
4.J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, § 87.
5.U. Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung, S. 32.
6.Ebd., S. 26.
7.Gehäufte Bezugnahmen auf das 1938 vom NS-Regime eingeführte „Mutterkreuz“ ließen sich in der Diskussion um die Einführung des inzwischen vom Bundesverfassungsgericht wieder kassierten Betreuungsgeldes beobachten, besonders in den sozialen Netzwerken. Doch auch in politischen Stellungnahmen von SPD, Grünen und Linken findet sich dieser Rekurs; für ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen vgl. T.-R. Stoldt, „Die Politik will nicht, dass Mutti zu Hause bleibt“.
8.Man denke hier auch an die Konstellation, dass der Vater des ungeborenen Kindes Druck auf die Mutter ausübt, das Kind abzutreiben.

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