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Weltanschauungen
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Männer, Frauen und …? Geschlechtertheorien im Widerstreit

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„Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ – Diese Frage hat vor einigen Jahren Richard David Precht gestellt und versucht, sie in seinem Buch mit einem Spaziergang durch die Grundfragen der Philosophie zu beantworten. Dieselbe Frage drängt sich dem auf, der tiefer in die gegenwärtig vertretenen Geschlechtertheorien eintaucht. Im Dschungel der unterschiedlichen, teilweise sogar widersprüchlichen Theorien weiß der Leser am Ende kaum noch, ob er Mann oder Frau ist. Ja, gibt es diese Geschlechterklassen überhaupt?

Ein Auszug aus dem Buch Gender von Prof. Dr. Christoph Raedel

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Um Gender-Mainstreaming verstehen zu können, ist es notwendig, zumindest ansatzweise zu erfassen, welche Diskussionen hinter den Kulissen der Geschlechterwissenschaft geführt werden und worum gestritten wird. Für Spannung sorgt dabei der Stoff selbst. Es geht um nicht weniger als die Frage, die einst Herbert Grönemeyer umtrieb, als er sang: „Wann ist ein Mann ein Mann?“ Und genauso: Wann ist eine Frau eine Frau? Anders gesagt: Was verstehen wir unter „männlich“ und „weiblich“ und wie bilden sich unsere Vorstellungen hierzu aus?

Die Vorstellung, Mann und Frau seien verschieden und gehörten doch zueinander, ist unter Wissenschaftlern, die sich mit Geschlechterfragen beschäftigen, schon lange nicht mehr selbstverständlich. Hier werden viele auf den ersten Blick für selbstverständlich gehaltene Sachverhalte diskutiert und infrage gestellt. Dazu gehören: 1.) die unterschiedliche Machtverteilung zwischen Männern und Frauen im Berufs- und Familienleben, 2.) das von Generation zu Generation tradierte Einfügen vieler Männer und Frauen in eingeschliffene Rollenmuster, während sie heute Freiheiten genießen, die früheren Generationen undenkbar schienen, und 3.) die in der Alltagsintuition tief verwurzelte Einteilung in die zwei Geschlechterklassen „männlich“ und „weiblich“.

Im vorliegenden Buch werde ich in einem ersten Teil die Entwicklung der Gender-Diskussion und ihre aktuellen praktischen Konfliktfelder vorstellen. Dazu möchte ich zunächst eine Schneise schlagen in die komplexen und für Nichteingeweihte oft unübersichtlichen geschlechtertheoretischen Debatten (Kapitel 1). Im Anschluss daran erläutere ich in zwei Schritten, was sich hinter dem Begriff „Gender-Mainstreaming“ verbirgt und wie dieser Handlungsansatz im Alltag greifbar wird. Dabei gehe ich zunächst auf das ursprüngliche Anliegen der Gleichstellung von Mann und Frau ein (Kap. 2), bevor die Radikalisierung des Ansatzes in den Blick kommt, bei der es um die Vervielfältigung der Geschlechter geht (Kap. 3). Dann verschaffen wir uns unter den Stichworten Homo-, Inter- und Transsexualität einen Eindruck von der viel gepriesenen sexuellen Vielfalt (Kap. 4) und untersuchen, wie sich das Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft in Schulen, Universitäten und im Sprachgebrauch auswirkt (Kap. 5).

Im zweiten Teil werden die gewonnenen Beobachtungen zum christlichen Menschenbild in Beziehung gesetzt und von ihm her kritisch geprüft. Dabei geht es um das Menschsein von Mann und Frau in Beziehungen (Kap. 6), die Bestimmung und Berufung des Menschen (Kap. 7), die Bedeutung der Familie (Kap. 8) und die Unverzichtbarkeit einer bindungsorientierten Sexualität (Kap. 9). Im letzten Kapitel werden, bezogen auf konkrete Lebensbereiche wie Schule, Arbeitswelt und Gemeinde, Antworten auf die Frage gegeben: Was können wir als Christen tun angesichts der „Gender-Agenda“?

Die Einleitung und der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch Gender von Prof. Dr. Christoph Raedel.

Männer, Frauen und …? Geschlechtertheorien im Widerstreit

Die geschlechtertheoretische Diskussion ist kein Garten, der mit übersichtlich angelegten Wegen zum Spazierengehen einlädt. Eher gleicht sie einem Labyrinth, in dem sich zurechtzufinden eine echte Leistung ist. Mehr noch: Dieses Labyrinth ist vermintes Gelände, politisch aufgeladen, ideologisch umkämpft.

Dieses Kapitel soll eine Orientierung im Gelände ermöglichen. Dazu skizziere ich zunächst die Voraussetzungen in den Lebenswelten von Frauen, die im 19. Jahrhundert zum Entstehen der ersten Frauenrechtsbewegung führten. Dann erläutere ich eingehender die Vorstellungen, die unter den Bezeichnungen „Gleichheitsfeminismus“, „Differenzfeminismus“ und „(radikaler) Gender-Konstruktivismus“ diskutiert werden, und zeige in aller Kürze, welche Bedeutung der jeweilige Ansatz in der Diskussion hat. Mit diesem theoretischen Überblickswissen ausgerüstet können wir uns dann auf den Weg machen quer durch die geschlechterpolitischen Konfliktfelder.

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