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Weltanschauungen
Text 35 Min.

Gender-Mainstreaming und Kirche

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Angesichts der Breite von Gender-Mainstreaming(=GM)-Strategien und der Weite von GM-Definitionen ist es unmöglich, sich fundiert mit Gender-Mainstreaming auseinander zu setzen.

1. Vorklärungen

Angesichts der Breite von Gender-Mainstreaming(=GM)-Strategien und der Weite von GM-Definitionen ist es unmöglich, sich fundiert mit Gender-Mainstreaming auseinander zu setzen. Der vorliegende Gesprächsbeitrag setzt darum viel bescheidender und auch um einiges vorsichtiger an:

(1) Er versucht keine Definition von GM, die ja sofort als zu eng, zu weit oder in anderer Weise unzutreffend abgelehnt werden könnte. Der Beitrag versucht vielmehr Anliegen von GM zu identifizieren und lädt zum Konsens über diese ein.

(2) Die für GM unterstellten Ziele und Anliegen werden im Folgenden zu Kriterien, an denen Theorieelemente und Erscheinungsweisen von GM gemessen und überprüft werden können. Mögliche kritische Gesichtspunkte bezögen sich auf das eigene Selbstverständnis. Sie könnten dann auch nicht als Produkt eines falschen Bewusstseins abgewehrt werden. Sie wären nicht von außen an GM herangetragen, sie beträfen die Kohärenz und Konsistenz des eigenen Erscheinungsbildes und der GM-Theoriebildung.

(3) Mögliche Kritik vollzieht sich auf dieser Basis nicht als Diskreditierung, im Fallbeilmodus. Sie geschieht im Modus der Frage. Sie bestreitet nicht das grundsätzliche Recht von GM. Sie fragt allein, wo GM ggf. hinter den eigenen Zielen und Anliegen zurückbleibt und wo sie in sich widersprüchlich ist. Leitend ist dann die Frage, wie GM gewinnen kann – an Plausibilität, Attraktivität und Überzeugungskraft.

Als Anliegen von GM wird im Folgenden in der Tradition einer sich kritisch über sich selbst aufklärenden Aufklärung unterstellt:

Befreiung von jedweder Vormundschaft.

Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen, für die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Etablierung einer neuen Geschlechterkultur.

Verzicht auf jedwede Form von mentaler oder anderer Gewalt.

Alleinige Geltung von Argumenten und die Abwesenheit von ideologischer Manipulation.

2. Was verhindert eine erfolgreiche Gender-Strategie?

Der Widerstand[1] gegen GM und feministische Überzeugungen wie Ziele ist in der Bevölkerung, in Kirchen und Freikirchen anhaltend groß.[2] Nicht nur in einem prämodern-traditionsorientierten mentalen Setting, sondern auch in postmodernen Mindsets wächst er eher noch.[3] Der Widerstand beruht auch darauf, dass viele Argumentationsweisen und Voraussetzungen nicht einleuchten oder als zu pauschal erscheinen. Notwendig ist in dieser Situation in Gesellschaft und Kirche[4] ein Kommunikationskonzept. Wie kann man die eigenen Ziele besser vermitteln? Wo gibt es Missverständnisse? Wo gibt auch die Performanz von GM Anlass zu Rückfragen, weil sie im Gegensatz steht zu den eigenen Kernanliegen? Wo sind Voraussetzungen auch in der Sache revisions- oder mindestens diskussionsbedürftig?[5]

a) Wo macht sich GM zum „Vormund“ und behindert Emanzipation und Aufklärung?

Es gibt verbreitet einen Widerstand gegen GM, interessanter- und für GM ärgerlicherweise auch unter Frauen. Es fällt auf, dass sich ausgerechnet in freien Gesellschaften, in denen es einen offenen Geschlechterdiskurs und freie Wahlmöglichkeiten gibt, „nicht weniger, sondern mehr Frauen für angeblich typische Frauenberufe entscheiden, soziale oder kreative Berufe. Wenn Frauen die Wahl haben, tun sie eben nicht das Gleiche wie die Männer.“[6] Liberale Gesellschaften zeichnet es aus, dass verschiedene Auffassungen über das Verhältnis und das Wesen von Mann und Frau nebeneinander stehen. Aus diesem Grund ist es in liberalen Gesellschaften auch möglich, aufs Ganze gesehen Minderheitenpositionen wie etwa Feminismus, GM und Gender-Forschung (= GF) zu vertreten. Das ist gut so. Nicht gut wird es dann, wenn sich GM zum Vormund macht und sich – entgegen dem eigenen Anspruch – antiaufklärerisch verhält.[7] Alternative, von der richtigen Lehre abweichende Verhaltensweisen werden dann sanktioniert und diskreditiert. Sie gelten als unaufgeklärt, noch nicht emanzipiert. Aufklärung ist gut. Sie droht aber in ihr Gegenteil umzuschlagen, wo sich der Aufklärer zum Vormund macht, der die Selbstbestimmung anderer gerade nicht respektiert, sondern eine erhöhte, überlegene Warte beansprucht. Von der her wird dann das Verhalten anderer beurteilt und eben auch verurteilt. Aufklärung? – Ja, aber nur da, wo es zu den gewünschten, zu meinen Ergebnissen führt? Selberdenken? – Ja, aber nur soweit und insofern es zu den eigenen Erkenntnissen führt? Wo GM so verfährt, diskreditiert es sich selber und verwickelt sich in Widersprüche.

GM in der Kirche? – Grundsätzlich ja, aber nicht als neue Herrschaft an Stelle der alten. GM in der Gemeinde? – Das wäre eine Chance, zu zeigen, wie die universale Herrschaft des Einen, Jesus Christus, sich in Geschlechtergerechtigkeit einerseits und gegenseitiger Wertschätzung derer auswirkt, die alle Gottes geliebte Kinder sind. Ausgerechnet Eph 5,21 wäre dann Anweisung, konkret zu leben und zu praktizieren, was es heißt, dass weder Männer noch Frauen die „Herren“ in der Gemeinde sind; dass ein Miteinander von Männern und Frauen vielmehr nur da gelingt, wo die wechselseitige Achtung, Hochachtung und Höherachtung fundiert ist in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus.

b) Wo beansprucht GM ein elitäres, in der Sache rationalistisches Erkenntnisprivileg?

Es gibt sehr bestimmte, sehr apodiktisch vorgetragene, Widerspruch kaum duldende und Sendungsbewusstsein atmende Auftritte. Sie lassen fragen, ob die geheime, nicht ausgesprochene, in vielen Fällen vielleicht auch nicht bewusste Voraussetzung des GM-„Diskurses“ ist, dass man oder besser „Frau“ eine Art god’s point of view[8] innehat. Man oder besser „Frau“ weiß einfach a priori, was richtig ist; was der richtige Standpunkt ist. Gegenargumente dienen nicht mehr der Wahrheitsfindung. Sie müssen allenfalls ausgehalten und dann möglichst schnell widerlegt werden. Dass sie nicht stimmen, weiß man aber schon vorher, etwa, weil der Kritiker das falsche, andere, Geschlecht hat, oder eben weil sie noch nicht aufgeklärt ist, sich noch unterdrücken lässt, also noch nicht frei/befreit ist.

GM muss sich fragen (lassen): Wo tritt – v. a. im Raum der geisteswissenschaftlichen Fakultäten und links-liberaler Medien – an die Stelle eines jahrhundertelangen traditionell geprägten Meinungsmonopols ein neues, das so wenig wie das alte Anderes neben sich stehen lassen kann? Wo tritt an die Stelle der alten Geschlechter-Metaphysik eine neue Position, die mindestens ebenso apodiktisch auftritt? Wo tritt an die Stelle einer essentialistischen Geschlechterzuweisung mit Ewigkeitsgeltung nun ein neuer Essentialismus, der sich ähnlich absolut setzt und seine Schau durchzusetzen sucht?

Ein solches GM tut Kirche (und Gesellschaft) nicht gut. Kirche kennt – prinzipiell – eine Vielfalt von Kulturen; sie weiß darum, dass all ihr Erkennen Stückwerk ist (1Kor 13,9.12), und sie begegnet – idealiter – dem anderen mit Respekt und Demut.

So wenig wie der Mensch idealerweise Mann ist, so wenig heißt Mensch-Sein idealerweise Frau-Sein. Die teilweise zu beobachtende Idealisierung des Schwul-Seins als wahres Mann-Sein und der Homosexualität als die eigentliche, nicht unterdrückte Sexualität kann als Gegenbewegung gegen jahrhundertelange Abwertung und Un­ter­drückung verstanden werden. Ebenso verständlich ist nun die in bestimmten Milieus von Gesellschaft und Kirche zu findende Überprofilierung des Weiblichen, incl. weiblicher Charakterzüge als Eigenschaften, an denen Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik genesen können. Das kann als Überreaktion gegen die lange anhaltende Abwertung von Frauen begriffen werden. Wenn es einhergeht mit einer pauschalen Abwertung des Mannes und des Männlichen, schießt GM über sein Ziel hinaus. Die bei vielen Männern (und Jungen) zu findende Verunsicherung über ihre eigene Identität ist ein Signal, dass eine gelingende – neue – Geschlechterkultur nicht durch ein Zurückdrängen eines Geschlechtes gelingen kann.

c) Wo wird aus der Kritik am Geschlechter-Essentialismus
ein fundamentalistischer Konstruktivismus?

Grundlegend für GM und für GF ist die – mehr oder minder differenziert und in verschiedenen Graden der Entschiedenheit vertretene – Überzeugung: Das Geschlecht eines Menschen ist kein biologischer Sachverhalt, sondern eine soziale Konstruktion.[9] Biologisches Geschlecht (sexus) und soziales Geschlecht (gender) werden entkoppelt, gleichzeitig wird das biologische Geschlecht in seiner Bedeutung weitgehend relativiert oder gar als eigenständiger Sachverhalt bestritten. Gender saugt sexus quasi auf.

Hintergrund dieser anthropologischen Voraussetzung von GF und GM ist die richtige Einsicht, dass Frauenunterdrückung in der Vergangenheit mit der naturgegebenen Polarität von Mann und Frau begründet wurde. Um diese quasi essentialistische Position aufzubrechen, verfolgt GM die Strategie, sie schlicht in Frage zu stellen. Dabei tritt dann an die Stelle eines anthropologischen Essentialismus ein Konstruktivismus, der die totale kulturelle Überschreibbarkeit vertritt. An die Stelle der naturgegebenen, nicht änderbaren Polarität der Geschlechter tritt die Rede von bloßen Geschlechterrollen, die zugewiesen werden.

So einleuchtend das Ziel der Argumentation ist, Hindernisse für Frauenbefreiung zu beseitigen, so wenig können die theoretischen Mittel überzeugen:

Schon die Alternative von Natur und Kultur ist falsch. Veranlagung und Prägung lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Im Rahmen genetischer Gegebenheiten entfalten wir kulturelle Möglichkeiten. So zeichnet sich jede Kultur dadurch aus, dass sie geschlechtsspezifische Zuweisungen vornimmt. Diese sind nicht einfach ableitbar aus biologischen Gegebenheiten, reagieren aber auf biologische Unterschiede. Die soziokulturellen Ergebnisse sind in vielen Fällen gemessen an unseren Maßstäben einer aufgeklärten westlichen Kultur nicht gerecht. Das gibt aber nicht das Recht, die Korrelation und Interaktion von Erbe und Umwelt in Frage zu stellen. Hilfreich ist in unserem Zusammenhang aber der Hinweis, dass das Gen nicht determiniert und die soziokulturellen Gegebenheiten eine große Plastizität aufweisen.

Wo an die Stelle einer essentialistischen Betrachtung die konstruktivistische Behauptung tritt, das Geschlecht des Menschen sei sozial hergestellt, es sei – nur – gemacht, schlägt die konstruktivistische Betrachtungsweise um in einen neuen „Essentialismus“. Weiß man es aber dann nicht auch hier zu genau? Der Mensch darf nicht Mann und Frau sein, oder wenn, dann nur in einer willkürlichen, nicht essentiellen Weise? Dass die Unterschiede von Mann und Frau immer wieder instrumentalisiert worden sind zur Unterdrückung von Frauen, rechtfertigt nicht, diese Unterschiede grundsätzlich zu bestreiten

Hat es Sinn, bestimmte biologische Unterschiede zu leugnen?[10] Ist es wirklich plausibel zu bestreiten, dass sich soziale Konstellationen – auch – auf biologische Unterschiede zurückführen lassen?[11] Fördert der hier teilweise zu beobachtende, ideologisch wirkende Kampf gegen Windmühlen das Ansehen von GF und das Anliegen von GM?[12]

Wissenschaftstheoretisch ist relevant, dass der Begriff der Rolle oft unkritisch gebraucht wird. In der Soziologie meint er eine bestimmte Gegenstandskonstitution: Sozialwissenschaft fragt nach soziokulturellen Konstrukten und betrachtet das Zusammenleben von Menschen – u. a. – als soziales Konstrukt[13]. Dies bedeutet aber nicht, dass unser Zusammenleben an sich und als solches nur auf solchen Konstrukten beruhe, seinem Wesen nach beliebig gestaltbar sei, auch und v. a. in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit des Menschen. Soziologisch gesehen „spielen“ wir Geschlechterrollen. Dass man etwas so sehen kann, bedeutet aber nicht, dass es seinem Wesen nach so ist. GF und GM vermeiden Plausibilitätsverluste, wo sie sich dieses Kategorienfehlers nicht schuldig machen und darauf verzichten, den methodischen Zugang zu ontologisieren.

Es gibt eine große kulturelle Bandbreite von Weisen, sein Geschlecht zu leben. Diese kulturelle Varianz hebt den von den meisten Menschen gelebten und für sinnvoll erachteten Unterschied von Mann und Frau nicht auf. Es gilt im Gegenteil: Die Tatsache, dass diese Polarität in jeder Kultur zu finden ist (wenn eben auch in unterschiedlicher Gestalt), ist ein Hinweis auf ihre anthropologische und soziale Bedeutung sowie ihre biologischen Ursachen. Für diese Überlegung ist wichtig: Die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Geschlechter bedeutet angesichts der kulturellen Plastizität nicht eo ipso eine Unterdrückung der Frau.[14] Deren Aufhebung hängt nicht an der Bestreitung der Unterschiede von Mann und Frau.

d) Wo wird die Kritik an Geschlechter-Stereotypen selbst zum Stereotyp?

Immer wieder kritisiert GM auch Geschlechterstereotype, speziell das Stereotyp von Männlichkeit, aber ebenfalls ein Stereotyp von Frausein dort, wo es zur Unterdrückung von Frau führt. Es ist richtig, dass pauschale, starre Rollenzuweisungen und die damit verbundenen Rollenerwartungen Menschen nicht nur einengen, sondern auch unglücklich machen können. Das ist v. a. in traditionellen, prämodernen Gesellschaften so, prämodern-traditionsorientierte Bevölkerungs-Anteile gibt es aber immer auch in modernen Gesellschaften. Hier einen Horizont zu öffnen und Menschen zu einem eigenen Lebensentwurf im Rahmen des Möglichen zu befähigen, ist ein unterstützenswertes Ziel.[15] Problematisch wird die Rede und Kritik an „Geschlechterstereotypen“ als theoretisches Kernelement von GM dort,

wo es selber zum Stereotyp wird; wo der Gebrauch des Wortes „Stereotyp“ argumentative Auseinandersetzung überflüssig macht. Der Vorwurf eines Geschlechterstereotyps unterstellt ja, dass ein bestimmtes Verhalten nur einer von anderen konstruierten Rolle von Mann- und Frau-Sein – ggf. unkritisch – folgt. Es wird dann nicht nur übersehen, dass auch die Vertreterinnen von GM ein solches konstruiertes Geschlechterstereotyp vertreten und einfordern, – wenn schon konstruiert wird, muss man sich auch Dekonstruktionen gefallen lassen; dass vielmehr schon die Rede von Stereotypen, Rollen, die erwartet und gespielt werden etc., sich einer theoretischen Konstruktion verdankt. Aus einem sozialwissenschaftlichen Konstrukt[16] wird hier unter der Hand die fundamentale These einer kulturellen Konstruierbarkeit/Plastizität des Menschen, selbst in einer so wesentlichen Frage wie der seines Mann- oder Frauseins. Wenn wir nur noch unseren eigenen Setzungen begegnen, wenn wir nur Geschöpfe unserer selbst sind, bis in unsere Geschlechtlichkeit hinein, degeneriert dann die Auseinandersetzung, die GM mit Recht begonnen hat, nicht zu einem bloßen Kampf um Deutung und Bedeutung; um Durchsetzung der eigenen Konstruktion? Wäre dann aber nicht auch GM ein bloßes Spiel um Macht? – Problematisch ist das pauschale Reden von „Geschlechterstereotypen“ auch dort,

wo etwa übersehen wird, dass soziokulturell in den segmentierten Lebenswelten in Deutschland (und entsprechend in anderen westlich geprägten Gesellschaften) sehr unterschiedliche und profilierte, sich zudem ständig noch wandelnde, dynamische und sehr traditionelle[17] Weisen existieren, das Verhältnis von Mann und Frau zu leben,[18]

wo eben doch insinuiert wird, dass hier die eine überlegene Position zur Geschlechterfrage nur zurückgebliebenen, auf Aufklärung und Befreiung wartenden Haltungen begegnet. Die im feministischen Bereich weithin übliche Abwertung traditioneller als „reaktionärer“ Geschlechterrollen lässt nicht nur nach der angemaßten Position fragen, die solche Aburteilungen fremder, anderer Lebenskonzepte „rechtfertigt“; solche Urteile sind philosophisch ja nur möglich, wo sich jemand im Gegenüber zu „reaktionärem“ Denken von vornherein als überlegen versteht und dabei übersieht, dass auch das eigene Denken geschichtlich geworden ist; dass auch die eigenen Vorstellungen historisch bedingt und damit überholbar sind; dass darum auch für sie keine absolute, unbedingte Geltung beansprucht werden kann;

wo das Recht bestritten wird, „Stereotype“ zu leben, soziologisch formuliert: sich in Verhaltensinstitutionen zu bewegen, die einem passen; in denen man sich heimisch fühlt und die das eigene Verhalten und die eigene Orientierung entscheidend entlasten. Wer wollte mit welchem Recht eine solche Haltung bestreiten? Das ginge doch wieder nur dort, wo man eine Art Gottesstandpunkt beansprucht und eben ganz genau und besser weiß, was für alle Menschen gut ist.

Eine vom Evangelium geprägte, insofern evangelische Kirche wird sich nicht zum Vormund anderer machen; eine evangelische Gemeinde wird vom Evangelium her zu einem Verhältnis von Mann und Frau locken, das nur durch die Herrschaft Christi, aber nicht die Herrschaft von Männern über Frauen oder von Frauen über Männer gekennzeichnet ist. Sie wird darum wissen, dass das Evangelium sich auch in der Geschlechterfrage soziokulturell unterschiedlich ausprägen kann.

Sie wird nicht pauschal von Geschlechterstereotypen sprechen. Sie wird dem Eindruck wehren, der Mensch könne sich letztlich selbst konstruieren, und damit auch Überforderungen wehren. Sie wird im Wissen darum, dass unser Erkennen Stückwerk ist (1Kor 13,9.12), zu gegenseitiger Demut aufrufen, in der einer den anderen höher schätzt als sich selbst und bei der anderen zu lernen sucht.

In einer postchristentümlichen Epoche[19] bedarf es dabei erheblicher Reflexionsanstrengungen, um eine angemessene Position zu finden. Eine christliche Gemeinde, die sich in einer immer weiter säkularisierenden Gesellschaft vorfindet, kommt nicht umhin, die im Schwinden begriffene Pastoralmacht[20] des Christentums einzusehen. Sie wird diese Entwicklung sowohl begrüßen – als Befreiung von einer unevangelischen Vormundschaft, die sie über andere ausgeübt hat. Sie wird sie aber auch bedauern, weil Gottes gute Weisungen an Einfluss verlieren und nicht einfach in einer nicht-religiösen Humanität aufgehen. Sie wird auf Normativität, nun aus einer Minderheitenposition heraus, nicht verzichten wollen und können. Sie wird dabei aber versuchen, nicht in den alten, autoritären Gestus zurückzufallen, auf der anderen Seite aber auch nicht einfach einem Beliebigkeitspluralismus das Wort reden. Sie wird – gebunden an das Schöpfungszeugnis – eintreten für ein Zusammenleben von Menschen im profilierten Gegenüber und in gegenseitiger Wertschätzung der Unterschiede von Mann und Frau. Sie wird „Rollen“-Zuweisungen nicht destruktiv dekonstruieren, aber in ihrer Bedeutung relativieren und auf ihre Angemessenheit an der gemeinsamen Gotteskindschaft in Christus hin prüfen (vgl. Eph 5,21).

In diesem Zusammenhang spielen vor allem zwei biblische Aussagen eine viel diskutierte Rolle:

(1) Gal 3,28 („hier [ist] nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave oder Freier, nicht Mann und Frau“). Paulus ruft anthropologische und soziokulturelle Distinktionen auf. Sie gelten als fundamental und sind für das Zusammenleben selbstverständlich. Genau diese Oppositionen gelten en Christo, d. h. soteriologisch, für die neue Gemeinschaft, die Er begründet, nicht mehr. Altes und neues Leben werden einander kontrastiert, aber apokalyptisch als Verschränkung von Welten gedacht. Man wird unterstellen dürfen, dass Paulus nicht davon ausgeht, es gebe mit einem Mal keine primären und sekundären Geschlechtsmerkmale mehr; keine Prägung durch Kultur und Sprache mehr. Das Gegenteil ist ja der Fall und gerade der Anlass für solche Reflexionen. Paulus überspringt also die Prägungen und Gegebenheiten nicht unnüchtern (vgl. seine Argumentation im Phlm, in dem er nicht einfach behauptet, Onesimus sei kein Sklave mehr). Paulus weist auf eine Wirklichkeit hin, die die unsere durchdringt, verändert, transformiert. Die gemeinsame Loyalität zu Christus hat dann notwendig Konsequenzen für das Verhältnis der Christen untereinander (Paulus appelliert an Philemon, Onesimus als Bruder zu behandeln).

(2) Mt 22,30: Hier finden wir neben der soteriologischen noch eine eschatologische Relativierung der Geschlechter: „Denn in der [Wirklichkeit der] Auferstehung werden sie weder heiraten, noch sich heiraten lassen. Denn wie die Engel im Himmel sind sie [dann].“ Auch hier durchdringen sich wieder Horizonte und Wirklichkeiten. Die eschatologische Wirklichkeit wirft ihr Licht voraus; sie lässt uns erkennen, dass die Ordnungen, in denen wir leben, vorläufiger Natur sind und dass die neue Welt die alte ablösen wird. Die Auferstehungswirklichkeit bedeutet etwas für unser Zusammenleben in dieser Welt (etwa in 1Kor 7,27b die Überlegung, ob es wirklich noch an der Zeit ist, sich zu verheiraten). Aber sie hebt die bestehende Ordnung des Zusammenlebens und ihre Gegebenheiten nicht auf (wer nicht anders leben kann und mit seiner Sexualität nicht anders fertig wird, dem rät Paulus, trotz der herandrängenden neuen Welt noch eine Ehe zu schließen und so die Ordnung der alten Welt ernst zu nehmen und in sie einzutreten; 1Kor 7,36, vgl. auch 7,27a).

Die bestehenden, schöpfungsmäßigen wie soziokulturellen Gegebenheiten werden nicht einfach übersprungen. Aber sie werden in ihrer Bedeutung soteriologisch und eschatologisch in einen neuen, entscheidenden Horizont gestellt, der sie relativiert und dynamisiert.

e) Wo verliert Gender-Forschung als theoretische Basis von Gender-Mainstreaming
ihre wissenschaftlich-rationale Basis?

In Ländern, die durch die Tradition von Aufklärung, Neuzeit und Moderne geprägt sind, spielt eine rationale Ausweisbarkeit der eigenen Überzeugungen eine entscheidende Rolle. In diesem Sinne ist es sehr wichtig, dass GF einen wissenschaftlichen Unterbau für GM darstellt. Es ist ebenfalls von Bedeutung, dass GF ideologiekritisch gleichzeitig die Erscheinungsweisen von Wissenschaft in Frage stellt und darauf hinweist, dass Wissenschaft immer interessegeleitet ist und ihr Anspruch auf Objektivität dazu dienen kann, diesen Sachverhalt zu verschleiern. Gerade wenn man diesen ideologiekritischen Ansatz teilt, stellen sich aber an GF eine Reihe von Fragen:

(1) Wenn alle Wissenschaft interessegeleitet[21] ist, dann gilt dies doch sicher auch für die GF. Wo wird dies reflektiert? Wird ausreichend bedacht, dass die Instrumentalisierung von GF für GM auch zu Verzerrungen und Einschränkungen der Erkenntnis führen kann? Wenn bisherige Forschung Männer-Forschung war und deshalb kritisch zu sehen ist, gilt das dann nicht mutatis mutandis auch für eine explizite Frauenforschung, als die sich GF phänomenologisch weitestgehend darstellt? Die Alternative wäre, zu unterstellen, dass der Frauen-, Gender- oder anderweitig unterdrückte Standpunkt schon als solcher der wahre ist und wahre Einsichten generiert. Dann bräuchte man aber keine Wissenschaft mehr.

(2) Wenn jede Erkenntnis standpunktbedingt ist, dann ist sicherlich jeder Erkenntnisanspruch daraufhin zu überprüfen, welche Genese er besitzt, also welcher Entdeckungszusammenhang leitend ist. Dann bedeutet aber die Tatsache, dass es – in jedem Fall! – einen solchen Entdeckungszusammenhang und eine solche Interessenlage gibt, noch keinen Einwand in der Sache. Dann kann doch auch die Tatsache etwa des männlichen Geschlechtes eines Erkenntnissubjektes nicht als solche ausreichen, um seine Erkenntnisansprüche zu entkräften.

(3) Wenn Interesseleitung als solche ein Grund für Ablehnung wegen Einseitigkeit ist, warum verfällt GF dann genau dem kritisierten Fehler? Erledigt sie sich dadurch – dem eigenen Anspruch nach – nicht selber? Wenn schon das Interesse desavouiert, warum soll man sich dann noch auf GF einlassen? Hierauf braucht es Antworten, die dem eigenen erkenntnistheoretischen und ideologiekritischen Reflexionsniveau standhalten.

(4) Oder ist GF doch schon deshalb wahr, weil ihre Subjekte das richtige Geschlecht haben? Für die Beanspruchung eines solchen Erkenntnisprivilegs gibt es ja in der Philosophiegeschichte einige Beispiele, ganz gleich ob Aristoteles nur dem Freien als dem zur theoria Fähigen die richtige Schau zutraut; ob Christen nur solchen die richtige Erkenntnis zubilligen, die ihren Glauben teilen; ob aus marxistischer Sicht die Einnahme des unterdrückten Klassenstandpunktes, dessen Reflexion marxistische Philosophie für sich beansprucht, allein zur wahren Sicht der Welt befähigt. Wer solche Strategien benutzt, dem ist es möglich, sich gegen Kritik und Argumente abzuschotten, weil man/Frau ja im Besitz der Wahrheit – vermeintlich – schon ist. Damit verlässt man/Frau freilich den Konsens über kritische Rationalität, der sich im Gefolge von Neuzeit, Aufklärung und Moderne an solchen in der Regel in der Wirkung unheilvollen Beanspruchungen eines Erkenntnismonopols gebildet hat. Hier steht also mit entsprechenden Haltungen auch ein wichtiges Stück der Aufklärungstradition in Frage.

(5) Wäre es in der Tradition kritischer Rationalität nicht auch für GF nötig, sich mit den Resultaten männerdominierter Genderforschung auseinanderzusetzen und d. h. diese nicht pauschal zu verwerfen? Je mehr dies geschieht, umso mehr erhöht sich die Glaubwürdigkeit und Plausibilität von GF und GM. Wo die vorhandene Forschung in toto deshalb verworfen wird, weil ihre Subjekte ein männliches Sexualorgan hatten/haben, verlässt man den Boden kritischer Diskurse. Um sich nicht in einem als solchem empiriefreien ideologiekritischen Diskurs zu erschöpfen, braucht es überzeugende, empiriebasierte breite Studien, die auch für Cis-Menschen[22] Argumente für die Position liefern: „Es sind allem voran kulturelle Akte, die einen Mann zum Mann (eine Frau zur Frau) machen“ (Franziska Schößler[23]).

(6) Dass die genetische Anlage, die Hormone, das evolutionäre Programm, das als fruchtbare Überlebensstrategie zur profilierten Ausbildung von Mann und Frau geführt hat, für die Ausprägung des kulturellen Erscheinungsbildes keine oder eine zu vernachlässigende Rolle gespielt haben, ist eine so starke These, dass hier eine ideologiekritische Verdächtigung und ein bloßer Behauptungsmodus nicht ausreichen, um sie begründet in Frage zu stellen. Die Überzeugung von der naturgegebenen Unterschiedlichkeit von Mann und Frau gehört zu den stärksten und wichtigsten, global gegebenen, biologisch und biochemisch offenkundigen sowie kulturell evidenten Konsensen. Wer sich gegen einen solchen Grundkonsens wendet, braucht sehr starke, intersubjektiv einsehbare, auch evidente Argumente. Der Grundkonsens ist in seiner reflektierten Form ja gerade nicht mit der Annahme verbunden, die Rollen von Mann und Frau seien überall dieselben.

Diese Anfragen gehen schon davon aus, dass es nicht „die“ eine Vernunft gibt, sondern dass es männliche und weibliche Vernünfte gibt. Wenn eine solche Einsicht aber nicht zur Sprach- und Kommunikationslosigkeit führen soll, die nur den Geschlechterkampf übrig lässt, bleibt als Option nur der Verzicht auf Beanspruchung von Erkenntnisprivilegien, ein sich-Einlassen auf allseits konsensfähige Formen von Argumentation und die Bereitschaft zur Selbstkritik.

g) Wo übersehen GF und GM ein Anfangsproblem?

Wenn sexus tatsächlich (nahezu) ohne Bedeutung ist, wie sich J. Butler u. a. zu belegen bemühen, hat GF dann nicht ein Anfangsproblem? Wo die Belanglosigkeit von sexus für das gesellschaftliche Leben und die Regelung zwischenmenschlicher Verhältnisse unterstellt wird, wird ja schwer erklärbar, warum etwas, das so bedeutungslos ist, sich so bedeutungsvoll auswirkt; warum die Demarkation zwischen Männern und Frauen/gender sich exakt an der angeblich sozial arbiträren biologischen Distinktion sexus auswirkt. Wenn sexus kulturell so unwichtig ist, warum halten dann die unterschiedlichsten kulturellen Systeme so andauernd an dieser Distinktion fest? Ein oft unterstelltes Herrschaftsinteresse von Männern über Frauen kann es ja nach dieser Theorie kaum sein: Entweder kommt dem Mann-Sein (sexus) ja sozial keine Bedeutung zu, oder „Mann“ und „Frau“ sind bloß soziale Konstruktionen, – woher dann aber ihre Persistenz? Biologisch gibt es ja dann keine Gründe. Welches Interesse sollten Männer (die ja Männer nur sind im Sinne von Gender) daran haben, Geschlecht (im Sinne von sexus) zu verteidigen?

h) Wo hebt die Einsicht in Singularität und Individualität
notwendige Orientierungen auf?

Einer der ganz großen Vorzüge von GM und GF ist die Anerkennung der Individualität jedes Menschen, auch in geschlechtlicher Hinsicht. Diese solle und dürfe nicht überspielt werden. Bei politisch korrekten Organisationen wie Facebook führt das dazu, dass neben Mann und Frau knapp 60 weitere Geschlechteridentitäten[24] zur Auswahl gestellt werden. Wie so oft könnte aber auch hier das gut Gemeinte das Gegenteil von gut sein. Die genannten Geschlechtsidentitäten sind dabei beileibe nicht vollständig. Wer Individualität ernst nehmen will, muss hier uferlos werden. Die Vorgabe von 60 Optionen erscheint aus postmoderner Sicht doch als ein allzu enges Korsett, dem ich mich einzufügen habe als einer autoritären Vorgabe. Vielleicht bin Ich ja noch einmal ganz anders?[25] Ich lasse mich prinzipiell nicht kategorisieren. Genau dieses prinzipielle Endlos-werden-Müssen[26] als Folge aus dem Imperativ, Individualität zu berücksichtigen, zeigt aber, dass ein Kategorienfehler vorliegt. Kann man die Singularität und Unverwechselbarkeit des Individuums würdigen, indem man Gattungen im Prinzip uferlos pluralisiert? So sehr es in der jüdisch-christlichen und in der auf ihr aufbauenden und sie säkularisierenden Tradition der Aufklärung ein Recht auf Singularität und Individualität gibt, so wenig ist die hier vorliegende Verwechslung von Gattung und Einzelnem, Allgemeinem und Konkretem hilfreich. Nimmt man nicht dem Anliegen die Plausibilität, wenn man solche kategorialen Exzesse treibt? Kein Mensch glaubt, dass es 60 „Geschlechter“ gibt.[27] Wäre der Sache nicht mehr gedient, wenn man innerhalb der polaren bzw. dualen Orientierung für Distinktionen wirbt und diese plausibilisiert? Ist es nicht ein Stück weit postmoderne Hybris, wenn sich in der Konsequenz des Ansatzes das Individuum als eigene Kategorie begreift? Bedeutet das nicht eine im Prinzip unendliche Pluralisierung? Steht die nicht aber in Widerspruch zum Anliegen, Identität abzubilden? Übersieht diese Pluralisierung der Geschlechter-„Identitäten“ nicht die Orientierungsfunktionen allgemeiner, immer pauschalisierender, aber eben zurechthelfender Allgemeinbegriffe?

Theologisch gesehen, liegen hier noch weitgehend unbearbeitete Fragen einer sich den Herausforderungen der GM-Perspektive stellenden Schöpfungstheologie:

(1) Thema sind ja nicht nur die ca. 60, aber beliebig vermehrbaren „Geschlechter“, die Beachtung verlangen. Wie gehen wir mit Bi-, Trans- und Intersexuellen um? Thema sind auch die mannigfachen Erscheinungen, die endokrinologisch als differences of sex development (DSD) verhandelt werden. Es handelt sich um seltene, angeborene Abweichungen von der „typischen“ Geschlechtsentwicklung, die vor allem hormonell bedingt sind.[28]

(2) Abgesehen davon, dass Quantität nicht über Relevanz entscheidet, sind die Zahlen allein von Transgendermännern und -frauen zwar relativ klein, absolut aber doch beachtlich (ca. 130 000 in der BRD). Schöpfungstheologisch[29] gibt es z. Zt. nur zwei Perspektiven, die aber beide unbefriedigend sind: entweder (a) DSD-Personen etc. gemessen an Heterosexualität als dem Normalen nur als Abweichung von dem Schöpfungswillen Gottes einzuordnen (im besten Fall zu „übersehen“ und nicht als Sünder abzuqualifizieren) oder (b) die Zahl der Geschlechter zu pluralisieren und in diesem Fall die durchgängig bezeugte und vorausgesetzt Bipolarität der Geschlechter in der Bibel als zeitbedingten Anachronismus zu werten, der heute keine Gültigkeit mehr hat. Alternative (a) ist zwar einfach und bequem, aber sie widerspricht einer Grundnorm evangelischer Ethik. Sie würdigt nicht die Einzigartigkeit der Person. Sie sieht sich genötigt, einen Menschen als Ausnahmeerscheinung, Abweichung etc. abzuwerten, seine Phänomenologie im Extrem in irgendeiner Weise auf Sünde[30] zurückzuführen.

Alternative (b) will auf Diskriminierung verzichten, schließt aber logisch all die Positionen aus, die sich nicht dem unbedingten Postulat universaler Gleich-Wertigkeit beugen. Zudem wertet sie das Zeugnis biblischer Anthropologie pauschal ab.

(3) Gibt es einen Weg jenseits der Position einer Bipolarität der Geschlechter, die keinen Raum lässt für Anderes, und einer Position, die keinen Raum lässt für Zweigeschlechtlichkeit? Wäre es denkbar, die biblisch durchgängig zu findende Bipolarität der Geschlechter nicht als exklusive Normierung zweier eindeutiger Geschlechter zu verstehen, sondern als Angabe von zwei Polen, die eine Spannweite von empirisch gegebenen Varianten und Zwischenstufen markiert? „Mann“ und „Frau“ wären dann – kulturell jeweils ohnehin sehr unterschiedlich ausgestaltete – Fokussierungs- und Ankeraspekte, die der Orientierung dienen, aber nicht als Idealtypen exklusive Geltung beanspruchen. Damit wäre nicht nur den biologisch, biochemisch und sexologisch erhobenen Sachverhalten Genüge getan, sondern auch der Leitfunktion biblischer Anthropologie der Geschlechter. Es wäre anerkannt, dass alle Menschen Gottes Geschöpfe sind und Gottes Zuwendung von Mutterleib an jedem einzelnen, einzigartigen Menschen gilt.

i) Wo schlägt GM als Strategie zur Befreiung von Gewalt um
in Anwendung von Gewalt?

Es gehört zu den modern und postmodern inzwischen und Gott sei Dank! im Anschluss v. a. an Fr. Nietzsche erreichten ideologiekritischen und verdachtshermeneutischen Standards, dass es keine Erkenntnis ohne Interesse, keine „Interpretation“ ohne Willen zur eigenen Bedeutung gibt.[31]

Die Wirkungsgeschichte der Aufklärung zeigt die Gefahr, dass das Verfolgen absolut gesetzter guter Ziele in Tugend-Terror umschlagen kann und das angestrebte Gute unter sich begräbt. Postmoderne Philosophie hat im Anschluss an Friedrich Nietzsche dafür sensibilisiert, wie auch der gute Wille „guter Wille zur Macht“ ist (J. Derrida)[32]. Gerade weil er guter Wille und – vermeintlich – guter Wille zum Guten ist, ist er besonders gefährdet. GM-Strategien dürfen diese erreichten Standards erreichter Sensibilisierung nicht abrogieren.

Für eine Befreiungsbewegung gibt es zudem eine spezifische Gefährdung. Gerade weil man sich lang anhaltender gewaltsamer Unterdrückung ausgesetzt sah; gerade weil man so lange nichts erreicht hat, sieht man/Frau sich oft moralisch legitimiert, die eigenen Ziele nun endlich auch unter Einsatz von Machtmitteln durchzusetzen. Hat man nicht selber so viel Gewalt erlitten? So kann dann Macht in neue Macht, Gewalt in neue Gewalt, Ungerechtigkeit in neue Ungerechtigkeit umschlagen.

Zu reden ist hier nicht nur von einem Klima der Konfrontation und Ausgrenzung. Problematisch sind auch Durchsetzungsstrategien, die mit Sanktionen arbeiten. Es ist nicht nur moralisch problematisch, sondern tangiert auch die Freiheit der Wissenschaft, wenn im Hochschulbereich Leistungen nicht angenommen oder schlechter bewertet werden, weil sie auf ein Gendern der Sprache verzichten. Der Zugang zum akademischen Diskurs wird dann letztlich von einer bestimmten Position in der Geschlechterfrage abhängig gemacht. Das ist ein ideologisches Verhalten, das sich – entsprechende Machtpositionen vorausgesetzt – als Tugendterror auswirkt.

Schon hier muss klar sein: Der Weg einer Kirche, die sich – geschlechterneutral formuliert – als „herrschaftsfreie Geschwisterschaft“ versteht, kann das nicht sein.

Für den Raum der Gemeinde, aber doch auch für alle anderen Interaktionsräume, die sich im Gefolge der Aufklärung sehen, müssten folgende Verzichtserklärungen zur Grundlage erfolgversprechender Kommunikations- und „Durchsetzungsstrategien“ werden:

Verzicht auf alle Formen von Gewalt, auch mentaler, sprachlicher und speziell rhetorischer;

Verzicht auf alle Formen von Ausgrenzung, die sich im Zuge der Durchsetzung der guten Sache evtl. eingeschlichen haben; Verzicht darum auch auf die Ausgrenzung von Männern, die sich z. B. als „Hörerinnen“ nicht angesprochen fühlen, oder nicht als Professorinnen sehen können. Es gehört zu den Grundüberzeugungen einer vom Evangelium her kommenden und nach Frieden suchenden (Röm 14) Kirche, dass ein Unrecht nicht durch ein anderes gut gemacht werden kann; dass die eine Ausgrenzung nun eben eine andere „verdient“;

Verzicht auf Formen von political correctness, die z. B. „Sprachverstöße“ „erbarmungslos ahndet“[33], etwa per Ausschluss aus dem Kreis derer, die richtig denken, reden, handeln, also „rechtgläubig“ sind;

Verzicht auf jeden, auch indirekten Bekehrungsdruck, der zu Umdenken, Umkehr, metanoia zwingt oder diese manipulativ nahelegt. Bekehrungs-Terror haben wir im Raum des Protestantismus zu Recht angeprangert, und seien die Gründe für ihn auch noch so gut (etwa die Gefährdung des ewigen Lebens). Er entspricht nicht dem Geist des Evangeliums;

Verzicht auf Sanktionierungen jeder Art, wo jemand einem Sprachgebrauch nicht folgt, den die einen den anderen vorschreiben wollen; Verzicht auch auf gewaltsame Versuche, Sprache normieren und in ein korrektes Regelwerk bringen zu wollen;

Verzicht auf Zwangsbeglückung derer, die gar nicht befreit werden wollen. Kirche setzt nicht auf rhetorische oder andere Machtmittel, sondern auf die sanfte, aber anhaltende Wirkung des Heiligen Geistes, der bittet, anklopft, in Liebe zu überzeugen sucht, dabei aber die Freiheit des Menschen respektiert. Ihr Kommunikationsmodus ist der Modus der Bitte (2Kor 5,21).

Es kann sein, dass diese Bitten um Verzicht zu früh kommen. Es könnte sein, dass wir in Gesellschaft, Kirche und Gemeinde erst eine neue, nun weibliche und pluralistische Form von Dominanz und Vorherrschaft brauchen, um in einem dritten Schritt frei zu werden für eine Bewegung, die zu Ausgleich und Versöhnung führt. In unserer Gesellschaft finden wir heute auf vielen Feldern offen oder verdeckt Geschlechterkampf, überdeckt oder fundiert durch fundamentalistische mentale Orientierungen. Können wir das für Kirche und Gemeinde umgehen?

j) Wo finden sich gewalttätige Interpretationen und
„Überschreibungen“ der Wirklichkeit?

Für radikale GF gilt die Faktizität des Körpers als leer; als tabula rasa, die bereits mehrfach überschrieben worden ist und die jetzt neu beschrieben werden soll. GF schlägt dann um in einen radikalen Konstruktivismus, der sich als GM seine eigenen Fakten schafft. Legitim ist die Neu-Beschreibung der „Geschlechterrollen“ nur dort und dann, wo vorher nichts war oder Falsches geschrieben stand. Dem Anspruch nach handelt man dekonstruktiv, weil ja nur eine gewalttätige, männliche Beschreibung aufgedeckt wird. Dem Anspruch nach handelt man emanzipierend und kreativ. GM muss sich freilich fragen lassen, wo die eigene Strategie nicht mehr gewaltfrei-dekonstruktiv ist, sondern umschlägt in gewalttätig-destruktiven Kampf gegen biologische und kulturelle Gegebenheiten, wenn die Faktizität des Körpers übergangen, die geschlechtlichen Profile der Leiblichkeit nicht nur übergangen, sondern sogar geleugnet werden; wenn eine fließende Identität dort behauptet wird, wo bereits biologische Anker- und Ausgangspunkte für soziale Prägung als Mann und Frau gegeben sind.

Liegt nicht dort auch ein weiterer philosophischer Kernwiderspruch vor, wo einerseits radikal-konstruktivistisch die im Prinzip grenzenlose und ungehinderte Beschreibbarkeit des Körpers und Bildbarkeit von Geschlechtern behauptet wird, andererseits der Fokus mindestens eines Teiles der GM-Bewegung auf der Befreiung des weiblichen Geschlechts liegt, also ganz offenbar eine Vorstellung vom Profil dieses Geschlechtes vorausliegt und bestimmend ist? Es scheint dieser Widerspruch zu sein, der auch der de facto-Spaltung des GM in eine EMMA-Fraktion und eine „Berliner Szene“ zu Grunde liegt.[34] Alice Schwarzer und andere haben sehr wohl ein Wissen von dem, was Mann und Frau ist; dieser modern-emanzipativen Konzeption und einer entsprechenden Strategie steht ein postmodernes Konzept gegenüber, dass eine Ekelschranke gegenüber allen Identitäten und Festlegungen hat.

k) Wo grenzt eine Bewegung aus, die sich für Inklusion einsetzt?

Viele Leserinnen dieses Beitrags werden fragen, ob ein Mann überhaupt in der Lage ist, zu Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und der Frauenbefreiung als Zielen von GM angemessen zu argumentieren. Und natürlich ist ja gar nicht zu bestreiten, dass die Tatsache, dass Vf. ein Mann ist, einen Einfluss auf seine Überlegungen hat. Und natürlich sind seine Reflexionen auch darauf hin kritisch zu lesen. Aber diskriminiert es nicht einen erheblichen Teil der Bevölkerung, wenn diesem die Wahrheitsfähigkeit in bestimmten Fragen grundsätzlich abgesprochen wird? Wird hier nicht die eine Hälfte der Menschheit unter einen Generalverdacht gestellt?

Für Kirche, die auf Inklusion setzt und auf die Einheit der Geschlechter in Christus, ist dieser Ansatz so nicht geeignet.

l) Wo wird das Gendern der Sprache zum Bärendienst an GM?

Deutsche Sprache gilt vielen Vertretern von GM als Herrschaftssprache, weil Männersprache. Das Männliche dominiere in ihr, wie ja schon die Grammatik der Sprache zeige – insbesondere durch Dominanz des männlichen Geschlechtes. Viele Frauen fühlen sich darum in diesem Haus der Sprache nicht mehr zu Hause, weil sie auf Schritt und Tritt der Herrschaft von Männern begegnen und ihnen diese Herrschaft sogar noch über das zentrale Kommunikationsmedium aufgezwungen werde. Notwendig sei darum ein umfassendes Gendern der Sprache.

Diese Argumentation unterliegt einer Reihe von sprachwissenschaftlich und sprachphilosophisch aufzudeckenden Irrtümern. Sie aufzuweisen ist deshalb so wichtig, weil die Strategie des Genderns das Gesicht von GM in der Öffentlichkeit ist.

Feministinnen wie Marie Schmidt sprechen von „männlichen Wortformen“[35]. Da sie dominieren und Frauen nicht mitmeinen, müssten sie gegendert werden. Sprach­wissenschaftlich ist das – bei aller Sympathie mit dem Anliegen von GM – ein doppelter Unsinn. Das Betroffensein von unterdrückerischer Sprache, das durch das emanzipative Kerygma vielfach erst erzeugt oder gefördert wird, beruht schlicht auf einer Verwechslung, Ineinssetzung und letztlich Äquivokation von „Geschlecht“ als sprachlicher Kategorie und „Geschlecht“ als biologischer und sozialer Kategorie. Es stimmt, es gibt im Deutschen eine Unzahl von Substantiven, die auf „-er“ enden. Sie sind aber kein Ausdruck von Frauenfeindlichkeit, der so bald wie möglich zu beseitigen wäre. Sie sind schlicht Ausdruck der Tatsache, dass im Deutschen solche „-er“-Wörter von Verben abgeleitet sind. Bäcker kommt von backen, Läufer kommt von laufen etc.[36]

Gegen die Identifikation von generischem Maskulinum und biologischem Geschlecht spricht ein weiterer sprachwissenschaftlicher Sachverhalt. Es gibt in der deutschen Sprache nicht nur zwei „Geschlechter“, sondern drei. Die ideologiekritisch unterstellte Polarisierung und Instrumentalisierung der Sprache als Unterdrückungsinstrument wird ja schon durch diese andere Distinktion, die „Geschlecht“ eine ganz andere Bedeutung gibt, unterlaufen und widerlegt. Das Neutrum meint ja nicht nur, noch nicht einmal in erster Linie das Kind, sondern den ganzen Bereich des „Sächlichen“. Welche Form von Befreiung bräuchte es – konsequent das Gendern zu Ende gedacht – für das Glas und das Messer? Sind sie auch unterdrückt, oder ist es ein weiteres Zeichen von Unterdrückung, dass sie sächlich und nicht weiblich sind? Das Problem, ja der Unsinn des Genderns ist dort offenbar verstanden, wo vor einiger Zeit in der Linksfraktion des Flensburger Stadtrates der humoristische Antrag eingebracht wurde, im Sinne der Gleichberechtigung zukünftig von „der/die Staubsauger/In“ und „der/die Bleistiftspitzer/In“ zu sprechen.

Wie wenig das sog. generische Maskulinum und der biologische Sexus zusammen gehören, zeigt sich darin, dass wir die „-er“-Endung auch im sächlichen Bereich finden, etwa für Kleidungsstücke, Fahrzeuge, Instrumente etc. Müsste man nicht konsequenterweise in Zukunft auch von Büstenhalter/In und Hosenträger/In sprechen? Aber wie sinnvoll wäre das?

Die Identität von Sexus und grammatikalischem „Geschlecht“, erscheint auch dort absurd, wo wir auf andere Sprachen schauen. Im Ungarischen und Türkischen beispielsweise gibt es keine „grammatikalische Unterdrückung“ durch maskuline Formen der Sprache. Aber bedeutet das, dass Frauen in diesen Ländern weniger um Gleichberechtigung kämpfen müssen?

Ein zweiter, sprachwissenschaftlich zu identifizierender Irrtum kommt hinzu. Basissatz moderner Linguistik ist die wegweisende Einsicht von Ludwig Wittgenstein: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“[37] Es stimmt einfach nicht, dass wir überrascht sind, in der Bäckerei auf Frauen zu treffen, wenn wir sagen: „Ich gehe zum Bäcker“. Es stimmt einfach nicht, dass der Sparkassen-Verband sich selbst schaden will und die Hälfte der Bevölkerung von Bankgeschäften ausschließen möchte, wenn in seinen Formularen „nur“ von „Kunden“ die Rede ist. Die ganz große Mehrheit der weiblichen Kunden sieht das auch so.

Sprache ist nicht an sich frauenfeindlich und männerfreundlich. Wir dürfen soziale Befindlichkeiten nicht einfach in die Struktur von Sprache hineinprojizieren. Die Berücksichtigung des Wittgensteinschen Grundsatzes hilft allerdings zu einer noch einmal differenzierteren Betrachtungsweise.

Wir wundern uns nicht, in der Institution „Bäcker“ auf Frauen zu stoßen, aber es wird doch – v. a. weibliche – Personen geben, die sich wundern, wenn sie im Kollegenkreis derer, die beruflich backen als „Bäcker“ angesprochen werden und die „Bäckerin“ vermissen. Genauso wie es Kollegen gibt, die sich dabei „gar nichts denken“. Sie gebrauchen den „Bäcker“ so, dass die Bäckerin nicht nur „mitgemeint“, sondern semantisch mitenthalten ist. Der Gebrauch des Wortes in ihrer Sprache zeigt das. Für die einen ist die hergebrachte Redeweise also normal und ein Gendern unnötig kompliziert, für die anderen ist es ein Zeichen dafür, sozial wahrgenommen zu werden. Sie haben eine gegenderte Sprache eingeübt, und für ihren Sprachgebrauch ist die Unterscheidung von Bäcker und Bäckerin wichtig. Kommt die Bäckerin nicht vor, bedeutet das für sie, nicht vorzukommen.

In einer fragmentierten und segmentierten Gesellschaft können an den Rändern der Lebenswelten unterschiedliche Sprachspiele aufeinandertreffen. Das wird wohl weniger in der unteren Mittelschicht der Fall sein, aber entsprechende Konfrontationen entstehen häufig in postmateriellen Lebenswelten, wenn es um die Lehrer/in, Student/in oder Richter/in geht.

Die präzise Nachzeichnung des Sachverhaltes ist von großer Bedeutung. Sie zeigt: (1) Weder schließt der eine Sprachgebrauch aus, noch ist der andere „unnötig kompliziert“. (2) Unterschiedliche „Sprachspiele“[38]und Welten treffen aufeinander und wirken dynamisch aufeinander ein. So kann ja über die Jahre Rechtschreibung zu Falschschreibung werden und umgekehrt. (3) Letztlich geht es um Machtfragen. Wer setzt sich und seinen Sprachgebrauch in den Konfliktzonen durch? Die emotionale Wucht, mit der das Gendern diskutiert wird, erklärt sich auch durch diese dynamische Dimension von Sprache. (4) Sprache ändert sich, und was heute anstößig ist, wird es morgen für viele nicht mehr sein, weil und wenn eben „alle“ so reden.[39]

Zu den Sprachspielen gehört, dass sie sich ändern. Es ist also nur konsequent, dass bestimmte Gruppen in unserer Gesellschaft versuchen, Sprache durch einen veränderten Sprachgebrauch zu modifizieren und Einfluss auf das Reden – und wie erhofft – Denken und Handeln der Sprachspielteilnehmerinnen zu gewinnen. Das ist einerseits legitim; es passiert schon dort, wo eine politische Partei oder eine gesellschaftliche Gruppe einen Begriff semantisch besetzt, neu füllt etc. Andererseits wird gerade hier deutlich, dass eben auch das Gendern von Sprache ein Kampf um die Sprache ist. Es bedeutet mentale Gewaltausübung, insofern sich Menschen zu einem Sprachgebrauch genötigt sehen, der nicht ihrer ist und der ihnen fremd ist. Dieser mentale Gewaltakt sieht sich legitimiert durch die behauptete strukturelle Gewalt des Systems Sprache, gegenüber der man/Frau das eigene Denken auf dem Weg über sprachliche Einteilungen der Wirklichkeit durchzusetzen sucht.

Auch hier gilt wieder: Vielleicht ist es zu früh, darum zu bitten, auf solche Strategien zu verzichten; vielleicht erscheint es den Vertretern von GM unangemessen, sie darum zu bitten, „abzurüsten“ und sich zu fragen, ob ein solcher Kampf um Selbstbehauptung und ein solcher Durchsetzungswille evangelisch ist. Vielleicht braucht es – gerade auf dem Feld der Sprache – angesichts der langen Geschichte der Unterdrückung des weiblichen Geschlechtes dieses Sichtbarwerden im sozialen Bereich, auch und selbst dann, wenn es sprachwissenschaftlich und sprachphilosophisch Nonsens ist.

Sprache bildet Wirklichkeit ab. Sprache ändert sich. Über Sprache ändert sich auch Wirklichkeit. Es wäre freilich schwierig, daraus den Schluss zu ziehen, man müsse nur die Sprache entsprechend normieren, um so über das Bewusstsein die soziale Wirklichkeit zu verändern. Da es eben unterschiedliche Sprachgebräuche gibt (von denen keiner an sich diskriminierend ist), kann dieser Schuss ganz leicht nach hinten losgehen, etwa dort, wo ein solches Unternehmen als zwanghafte, unnötige, ideologisch erscheinende Durchsetzung der Haltung einer Minderheit erscheint.

Warnen muss man schon sprachwissenschaftlich vor dem Versuch, Sprache überhaupt normieren und so eindeutig machen zu wollen: „Verständigung hat einen persönlichen, unberechenbaren Faktor – die Idee, man könne eine schwierige Sachlage per Sprachregelung ein für alle Mal lösen, ist eine Illusion. Alle Versuche, der Sprache ihre immanente Mehrdeutigkeit auszutreiben und sie mit der Vorgabe einer geschlechtergerechten Differenzierung zu verordneter Einsinnigkeit zu zwingen, führen zur Verarmung.“[40]

Wer mit GM sympathisiert, dem muss zu denken geben, dass das Gendern von Sprache als eine Lieblingsbeschäftigung gesellschaftlicher Eliten in bestimmten postmateriell geprägten Submilieus gilt.[41] Die immer häufiger zu beobachtende Zuweisung ins Milieu des Akademischen, vor allem der Universitäten, hier aber v. a. der geisteswissenschaftlichen Disziplinen signalisiert Gefahr für die Durchsetzung des Anliegens von GM als einem allgemeinen, von der Mehrheit der Bevölkerung getragenen Anliegen. Wo GM vor allem als Gendern der Sprache sichtbar wird, wo selbst in gebildeten Schichten verbreitet Hohn und Spott über das Gendern ausgegossen wird und wo einem Großteil der Bevölkerung diese zwanghafte Veränderung der Sprache als Ausdruck einer political correctness gilt, da ist GM ein Bärendienst getan.

Für den Raum der Kirche stellen sich die Sachverhalte bei aller Komplexität einfach dar. Beherrschend soll und kann hier nur der Grundsatz der Liebe sein, der sich in gegenseitiger Hochachtung und im Respekt vor dem anderen/der anderen äußert. Wenn ManN weiß, dass sich Frau ausgeschlossen oder auch nur unangenehm berührt fühlt, wird er aus Rücksichtnahme eine Sprechweise vermeiden, die Verletzungen verursacht. Wenn frau weiß, dass ManN sie in seinem Sprachgebrauch nicht ausgrenzen will, wird sie auf entsprechende Unterstellungen verzichten. Wenn es zu Konflikten kommt, wird man geschwisterlich Gründe und Hintergründe aufdecken und zu einem Sprachgebrauch finden, der die gemeinsame Gründung in Christus widerspiegelt. Das kann dann bedeuten, dass man sich auf die ausdrückliche Nennung von Frauen als das deutlichere Zeichen der Wertschätzung und Anerkennung von Frauen verständigt. Es wird in jedem Fall bedeuten, dass Kirche als Sprachgemeinschaft auf ein powerplay, bei dem sich eine Seite durchzusetzen sucht, verzichtet.

Fraglich ist, ob im Raum der Kirche der Gleichstellung von Männern und Frauen nicht dort am meisten gedient wäre, wo man die Kräfte auf die Befreiung von realer und nicht nur sprachlich fraglicher Unterdrückung konzentriert. Fraglich ist auch, ob man nicht darauf verzichten sollte, durch einen zu komplizierten und umständlichen Sprachgebrauch weniger oder nicht akademisch gebildeten und sprachlich versierten Gliedern erneut den Zugang zum kirchlichen Leben zu erschweren und wohl auch zum Thema Gleichberechtigung zu verbauen. Wer sich für das Gendern als Ausdruck von Geschlechtergerechtigkeit einsetzt, muss sich fragen lassen, inwieweit dadurch das wichtige Anliegen für viele an Plausibilität verliert, die sich auf den hochkomplexen Theoriezusammenhang nicht einlassen können oder mögen. Fraglich ist ebenfalls, ob es Aufgabe von kirchlichen Mitarbeiterinnen sein kann, ein nicht zutreffendes Bewusstsein von Unterdrückung durch Sprache erst zu schaffen.

Für eine evangelische, als herrschaftsfreie Geschwisterschaft gelebte Gemeinde wäre es angemessen, auf alles zu verzichten, was nach – nun weiblicher – Dominanz, Tugendterror, Zensur, Druck oder sich Durchsetzen-Wollen einer Splittergruppe aussieht.

Kirche könnte auch dadurch vorbildlich sein, dass sie auf das Empfinden aller ihrer Mitglieder Rücksicht nimmt. Es wäre einfach wohltuend, wenn in ihr auf alles verzichtet würde, was exkludiert; wenn es z. B. nicht notwendig wäre, nur um akzeptiert zu werden, von Studierenden zu reden, die aktuell gar nicht studieren, von Lehrenden, die aktuell gar nicht reden etc. Hier liegt ein grammatikalisch falscher Sprachgebrauch vor, bei dem sich sehr viele nun ihrerseits nicht mehr wohl fühlen im Haus der Sprache. Evangelische Kirche und Theologie könnte ein Freiraum sein, in dem man nicht gezwungen ist, durch die gendernden Haken und Ösen in einen Sprachstil zu verfallen, der umständlich, unschön und dabei unnötig ist.

Kirche sollte der Ort sein, wo Frauen anders als in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft in ihrem Beitrag und ihrer Leistung sichtbar werden, aber nicht – primär – durch ein Gendern der Sprache, das schnell zum Feigenblatt werden kann („wir haben ja eine gendergerechte Sprache“) und damit die Veränderung tatsächlicher Benachteiligung verstellt.

m) Wo wird GM zur Ideologie?

Ideologie zeichnet psychologisch aus, dass ihre Überzeugungen für die, die sie vertreten, selbstverständlich zu sein scheinen. Man/Frau kann sich gar nicht vorstellen, dass man anders denken kann. Eine solche Haltung ist wirklichkeitsfern und behindert die Kommunikation, weil sie übersieht, dass es das Andere gibt. Die konfliktuöse Konsequenz ist: Wenn man/Mann diesen Überzeugungen widersteht, kann das – weil die GM-Positionen sich ja eigentlich von selbst verstehen – nur böser Wille, Widerstand aus bösen Motiven oder – bei Frauen, die nicht richtig denken – eine Form von Masochismus sein, mit der frau sich selber unterwirft. Widerstand gegen GM wird dann zu einer „reaktionären“ Einstellung, beruht dann auf einem „Geschlechterstereotyp“, an dem MAN/n aus bloßer Bequemlichkeit, Lust an der Unterwerfung oder aus Herrschsucht festhält.

Der Marxismus hat in vielen Varianten genau das vorgedacht: Wer anders denkt (als ich denke, und wie ich denke, ist es doch offenkundig normal und richtig), hat das falsche Bewusstsein.

Dieses „Andere“ ist dann nur noch dazu da, beseitigt zu werden. Natürlich ist der Unwille und die Ungeduld der Erleuchteten verständlich gegenüber denen, die offenbar nicht zum Licht kommen wollen – obwohl doch alles klar liegt und obwohl sie doch die eigene Befreiung erreichen wollen ssten.

Niemand möchte für dumm, unaufgeklärt, im reaktionären Dunkel lebend erklärt und zum Objekt ungeduldiger und dominanter Aufklärerinnen werden, so gut diese es – unterstellt – auch meinen.

Ideologisch ist das aus der Perspektive der Weltanschauungskritik eine Position, die eine geschlossene und begrenzte, wie abgegrenzte Welt darstellt. Normen und Regeln bewahren sie und schützen sie vor Veränderung. Verstöße werden geahndet. Sie dienen der Reinigung der Gemeinschaft durch Ausschluss; oder sie bestätigen die Gemeinschaft der Wahren und Richtigen dadurch, dass sie diese noch einmal gegen die zusammenschließen, die draußen sind und noch nicht das wahre Gender-Licht gesehen haben. Kennzeichen einer ideologischen Welt sind auch die in ihnen zu findenden und der Sache nach logischen Spaltungen, die zu immer neuen Sekten führen. Anschaulich ist das dann, wenn, wie jüngst geschehen, die EMMA-Fraktion aus der Berliner Szene als Rassistinnen verunglimpft wird, und Alice Schwarzer zurückschlägt, indem sie im Gegenzug ihre Gegner als Hetzfeministinnen qualifiziert. Sie bescheinigt ihnen ein sektiererisches Verhaltensmuster, „eine geschlossene und begrenzte Welt“, in der „‚Sprachverstöße‘ […] erbarmungslos geahndet“ werden; sie attestiert ihnen: „Es ist gar nicht so leicht, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Denn dort spricht frau in Dogmen und Rätseln, Sternchen und Unterstrichen. Die Sprache […] ist so normiert und spezialisiert, dass auch Akademikerinnen kaum folgen können“[42]. Schwarzer muss allerdings aufpassen, dass diese Wertungen nicht wie ein Bumerang zurückwirken.

Aus der Sicht eines ideologischen Standpunktes kann diese Kritik eines männlichen Autors natürlich nicht überzeugen. Sie wird von einem falschen, nicht wahrheitsfähigen Geschlecht geäußert.

Eine weitere Argumentationsfigur ist ebenfalls kennzeichnend für alle ideologischen Denkformen: Eine richtige, an sich nicht bestreitbare Wahrnehmung könne ja „instrumentalisiert“ werden von und für eine falsche Einstellung. Das Resultat: Etwas kann kognitiv richtig sein, moralisch aber falsch. Der richtige Standort legitimiert es dann, richtige Wahrnehmungen zu unterdrücken, weil sie moralisch falsch sind. Denn das, was richtig ist, steht ja immer schon fest. Es bedarf ja – als wahrer Glaubensstandpunkt – gar keiner kritischen Prüfung. So gelingt es, rationalen Diskursen und Argumenten jede Bedeutung zu nehmen.

Es ist in diesem Sinne auch damit zu rechnen, dass die Reflexionen dieses Beitrages einfach schon deshalb weniger ernst zu nehmen sind, weil ihr Verfasser das falsche Geschlecht hat. Ist er [!] als Cis-Person überhaupt wahrheitsfähig?

Ideologiekritik weiß: Zu widerlegen sind solche sich selbst begründenden und gegen Kritik abschottenden Argumentationsformen nicht. Hilfreich, fruchtbar und weiterführend sind sie aber auch nicht. Es bleibt die Bitte, auch auf die zu hören, die irren (können). Denn zu ihnen gehören wir – jedenfalls aus evangelischer Sicht – alle, sowohl als Männer wie als Frauen.

3. Zum Miteinander von Männern und Frauen in Kirche und Gemeinde:
Wie reagieren wir auf Impulse des GM?

Evangelische Christen leben von der Erneuerung durch das Evangelium. Sie leben aus einem eschatologischen Horizont, dessen Erwartung sie schon jetzt Züge einer Kontrastgesellschaft realisieren lässt.

Jesus stellt in Aussicht: Nach der Auferstehung gibt es weder Mann noch Frau. Die Geschlechterdistinktionen dieser Welt sind überholt (Mt 22,30). Diese eschatologische Überwindung der Genderfrage vollziehen Christen durch die Taufe vorweg, für die gilt: „Da ist nicht Mann noch Frau“ (Gal 3,28). Auch wenn damit nicht die reale Aufhebung der Geschlechtsmerkmale gemeint ist, werden wir hier dabei behaftet und darauf angesprochen, dass das Einssein in Christus, wie es das Hineingetauftsein in den Leib Christi begründet, alle anderen Unterschiede in ihrer Bedeutung entscheidend relativiert zu Gunsten der gemeinsamen Loyalität gegenüber Christus.

Nach Mk 10 kann die Gemeinde als eine herrschaftsfreie Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern nur so funktionieren, dass der, der groß sein und also Bedeutung haben will, aller Diener ist und also anderen Bedeutung gibt; dass der, der erster sein und bestimmen will, aller Sklave ist und sich zurücknimmt (Mk 10,43f).

In Eph 5 setzt Paulus das um. Das natürliche und kulturelle Verhältnis der Unterordnung wird transformiert in ein Verhältnis gegenseitiger Unterordnung, gegenseitigen Dienens und Anerkennens von Mann und Frau (5,21). Möglich ist das in der „Furcht Christi“, im Glauben an den, der schon jetzt alle gegebenen biologischen und kulturellen Prägungen relativiert und überholt.

In einer durch das Evangelium bestimmten Gemeinschaft

fragen wir und suchen wir nach dem, was ein freies, befreites, plurales Miteinander von Schwestern und Brüdern ermöglicht: geprägt und bestimmt durch das Vorbild und die Verkündigung Jesu Christi,

verhindern wir darum Diskriminierung und Exklusion von Frauen und Männern. Wir wehren uns deshalb auch gegen eine negative Konnotierung des Männlichen;

haben Männer Verständnis dafür, wenn GM in Reaktion auf Erfahrung von Unterdrückung und Herabwürdigung das Ziel verfolgt, Frauen in besonderer Weise sichtbar zu machen; wenn das – aus männlicher Perspektive – überpointiert geschieht, versuchen sie, dieses Verhalten im Rahmen eines notwendigen Emanzipationsprozesses hin zu einer freien Gemeinde von Brüdern und Schwestern zu verstehen;

verzichten wir gemeinsam auf jeden Druck, jede Ausübung von rhetorischer und anderer Macht oder Gewalt;

verzichten wir gemeinsam darauf, das was „anders“ ist – als wir oder als das, was wir für richtig halten –, ausmerzen und beseitigen oder auch nur ausgrenzen zu wollen;

verpflichten wir uns dazu, auch auf jede neue Form von „Pastoralmacht“ (M. Foucault) zu verzichten, mit der wir als Kirche anderen Menschen vorzuschreiben suchen, wie sie richtig zu denken, zu reden und zu handeln haben;

lernen wir erst noch, Anliegen des GM plausibel und gewinnend zu vertreten, ohne andere auszugrenzen; andere nicht zu verprellen, sondern anzuknüpfen an relevante Erfahrung von Unterdrückung und Konflikt;

konzentrieren wir uns auf wesentliche Felder der Auseinandersetzung und verlieren unsere Kraft nicht auf Nebenkriegsschauplätzen;

begegnen wir einander mit Demut, einer den anderen höher achtend als sich selbst, und mit Respekt vor dem, was im Mitchristen an Erfahrung, Führung, Weisheit Gottes aufbewahrt ist;

kommunizieren wir heilend, nicht verletzend, verbindend, nicht trennend; nicht im Gestus der Bekehrung und als Vormund, sondern als Gehilfen der Freude und im Modus der Bitte und des Angebotes;

leben wir miteinander nicht im Selber-Machen der schönen, neuen Welt, sondern in der Hoffnung und Erwartung, dass Gottes Geist selber unter uns wirkt.


[1] Vgl. kritisch, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Frau, Männin, Menschin. Zwischen Feminismus und Gender, Kevelaer 2009; Manfred Spieker: Gender-Mainstreaming in Deutschland. Konsequenzen für Staat, Gesellschaft und Kirchen, Paderborn 2015; Christoph Raedel: Gender Mainstreaming. Auflösung der Geschlechter, Holzgerlingen 2014; ders.: Gender. Von Gender-Mainstreaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt, Gießen 2017; ders.: Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen. Perspektiven theologischer Anthropologie, in: Christoph Raedel (Hrsg.): Das Leben der Geschlechter. Zwischen Gottesgabe und menschlicher Gestaltung, Münster 2017, 119–155; Eckhard Kuhla (Hrsg.): Schlagseite – MannFrau kontrovers, Eschborn/Magedeburg 2011; Gabriele Kuby: Die globale sexuelle Revolution. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit, Kißlegg 3. Aufl. 2013.

[2] Es gibt in der Debatte nur wenig Reflexionen, worin dieser Sachverhalt begründet liegt. Vgl. zur Sache den behutsam abwägenden Beitrag von Peter Döge: Von der Gleichstellung zur diskriminierungsfreien Gestaltung von Geschlechterkulturen: Gender Mainstreaming als Männlichkeitskritik (in: Christiane Burbach/Peter Döge [Hrsg.]: Gender Mainstreaming. Lernprozesse in wissenschaftlichen, kirchlichen und politischen Organisationen, Göttingen 2006, 25–35), der auf unterschiedliche Dialogkulturen etwa in Skandinavien und Deutschland hinweist.

[3] Vgl. den überaus instruktiven Bericht über eine entsprechende empirische Untersuchung von Carsten Wippermann und Marc Calmbach: Männer: Rolle vorwärts, Rolle rückwärts? Identitäten und Verhalten von traditionellen, modernen und postmodernen Männern, Opladen/Farmington (USA) 2009.

[4] Vgl. die breite Darstellung verschiedener Felder bei Ulrike Wagner-Rau: Vaterwelt und Feminismus. Eine Studie zur pastoralen Identität von Frauen, Gütersloh 2000.

[5] Einen ersten, schon als solchen verdienstvollen Anlauf unternimmt der Band: Gender im Disput. Dialogbeiträge zur Bedeutung der Genderforschung für Kirche und Theologie, hg.: Jantine Nierop, Hannover 2018.

[6] Harald Martenstein: Schlecht, schlechter, Geschlecht. Genderforschung, in: ZeitOnline 6. Juni 2013, 6.

[7] Diese frühe, mit dem Anspruch der Aufklärung anderer verbundene Dialektik der Aufklärung, andere zum Selberdenken zu ermutigen und sich dabei selber zum Vormund anderer zu machen, die es ja – im Gegensatz zu einem selbst – noch nicht begriffen haben; sich selbst egalitär zu geben und genau dabei elitär zu verhalten, nimmt man doch eine Position „über“ denen ein, die es zu befreien gilt, findet sich bereits in der Kritik Johann Georg Hamanns an der Aufklärungsschrift Immanuel Kants „Was ist Aufklärung?“ und deren Aufforderung „Habe Mut, dich deines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Die Forderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, steht dabei ja schon im Gegensatz zum Sachverhalt, dass dies hier unter der Leitung eines anderen geschieht. (Am besten sind beide Beiträge greifbar in: Was ist Aufklärung. Thesen und Definitionen, hg. von Ehrhard Bahr, Stuttgart 1974.)

[8] Der god’s point of view oder auf gut Deutsch „Gottesstandpunkt“/„Gottesperspektive“ ist eine durch die Arbeiten des postmodernen Philosophen Richard Rorty (Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 1997) fundierte ideologiekritische Perspektive: Wo beansprucht jemand durch die Form und die Art seiner Argumentation, quasi über den Dingen zu stehen, einen un-bedingten, absoluten Standpunkt einzunehmen, wie er nur einem philosophisch gedachten Gott möglich wäre, aber nicht einem Menschen? (Vgl. vor allem Hilary Putnam: Reason, Truth and History. Cambridge 1981, 48.50.)

[9] Mit wünschenswerter Klarheit stellt die Vordenkerin des GM Judith Butler klar: „Das ‚biologische Geschlecht‘ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird.“ Begründung: Das sog. biologische Geschlecht fungiert nicht „nur als eine Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine Art produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren.“ (Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 1997, 21.)Butler vertritt hier expressis verbis einen sozialen, auch die Biologie miteinbeziehenden absoluten Konstruktivismus. Auch das „biologische Geschlecht“ ist nicht einfach „natürlich“ vorgegeben, sondern Resultat sozialer Mechanismen. Zur Begründung vgl. dies.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991; dies.: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a. M. 2009; zur Kritik am Begriff des biologischen Geschlechts und seiner Unbestimmtheit bei Butler s. Lars Distelholz: Judith Butler, Paderborn 2009, 35–48 („Das Geschlecht als Produkt des Diskurses“).

[10] Viel diskutiert sind vor allem neurologische Ergebnisse. Vgl. etwa Simon Baron-Cohen: Vom ersten Tag an anders. Das männliche und das weibliche Gehirn (London 2003) Düsseldorf/Zürich 2004; Louann Brizendine: Das andere Gehirn. Warum Frauen anders sind als Männer, Hamburg 2007; dies.: Das männliche Gehirn. Warum Männer anders sind als Frauen, Hamburg 2011; Turhan Canli (Ed.): Biology of Personality and Individual Differences, New York/London 2006, v. a. Teil III, 159–222; Susan Pinker: Das Geschlechter-Paradox. Über begabte Mädchen, schwierige Jungs und den wahren Unterschied zwischen Männern und Frauen, München 2008; Steven Pinker: Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur, (New York 2002) Frankfurt 2. Aufl. 2017, v. a. Kap. 18, 482–531; Doris Bischof Köhler: Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechterunterschiede, 4., erw. Aufl. 2011, 215ff. – Die Relevanz biologischer und neurologischer Befunde bestreitet Nicole M Else-Quest/Janet Shibly Hyde: The Psychology of Women and Gender. Half the Human Experience, Thousand Oaks USA 2018.

[11] Um diese rhetorische Frage gegen mögliche Missverständnisse abzugrenzen: Damit ist weder gesagt, dass entsprechende soziale Verhältnisse dadurch legitimiert sind, noch dass sie nicht anders gestaltbar wären.

[12] Einen guten, dazu noch vergnüglich zu lesenden Überblick über Abwege der GF findet sich bei Martenstein: Schlecht, a. a. O. (Anm. 7). Pinker resümiert: „Feminismus als Bewegung zur politischen und sozialen Gleichstellung der Frauen ist wichtig, aber Feminismus als akademische Clique, die sich exzentrischen Lehren über die menschliche Natur verschrieben hat, ist es nicht.“ (Das unbeschriebene Blatt, a. a. O. 531)

[13] Vgl. bahnbrechend: Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (1965), Wiesbaden 17. Aufl. 2010.

[14] Umgekehrt ist auch die Anerkennung von Geschlechteridentitäten (LGBTQ) nicht abhängig von der schon statistisch offenbaren Polarität von Heterosexualität (wenn wir hier davon abstrahieren, dass auch die Ausprägung eines bestimmten Typos nach der Gauss’schen Normalverteilung erfolgt).

[15] Im Sinne der Mindset-Theorie wäre aber darauf hinzuweisen, dass sowohl modernen, wie post- und prämodernen Haltungen jeweils und in jedem Fall Voraussetzungen vorausliegen, die als solche insofern unbestreitbar sind, als ihre Kritik nur unter der Voraussetzung der Annahme möglich ist, dass die eigene Position richtig ist. Einem konservativ-traditionsorientiertes Mindset wird es immer und genauso möglich sein, ein modernes oder gar postmodern-pluralistisches Geschlechtskonzept mit Gründen in Frage zu stellen, wie dies umgekehrt geschieht.

[16] Vgl. klassisch: Dahrendorf: Homo sociologicus, a. a. O.

[17] Es ist bezeichnend, dass auch die neueste Shell-Jugend-Studie dokumentiert, dass sowohl die klassische Zuteilung der Mutterrolle für die Frau als auch die Erwartung der Versorgerrolle für den Mann in beiden Geschlechtern dominant sind (18. Shell Jugendstudie. Eine Generation meldet sich zu Wort, Weinheim 2019, 144–150).

[18] Vgl. Wippermann/Calmbach: Männer (s. Anm. 4).

[19] Vgl. zusammenfassend Heinzpeter Hempelmann: Nach der Zeit des Christentums. Warum Kirche von der Postmoderne profitieren kann und Konkurrenz das Geschäft belebt, Gießen 2009.

[20] Vgl. Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. – Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977/1978, (2004) Berlin 2006, 5. Aufl. 2017 (stw; 1808), 173–200.

[21] Das ist eine vor allem von Vertretern der Kritischen Theorie belegte Provokation. Vgl. Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, in: ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1970, 12–64; Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1978.

[22] Die von GM und GF (vgl. vor allem Volkmar Sigusch: Sexualitäten: Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten, Frankfurt am Main/New York 2013) kritisch gegen das Bewusstsein von Heterosexuellen, normal bzw. „allgemein“ zu sein, gewandte Kategorie weist diesen – im Gegenüber zu Transgender-Menschen – ebenfalls einen speziellen Status zu: eben CIS, lat. diesseits, zu sein: „Wenn es Transsexuelle gibt, muss es logischerweise auch Zissexuelle geben. Die einen sind ohne die anderen gar nicht zu denken.“ (Ebd., 244) Damit soll markiert sein, dass sich Heterosexualität als solche nicht von selbst versteht. Der vor allem kritisch und polemisch gebrauchte Begriff leidet an mehreren Problemen: Zum einen hebt er die statistische Realität nicht auf, zum anderen ist auch er geeignet, Menschen auszuschließen: Wo sollen sich etwa Bisexuelle oder Intersexuelle unterbringen? Schließlich unterliegt er einem Selbstwiderspruch. Er will Diskriminierung aufheben und lebt selber wieder von Distinktionen.

[23] Einführung in die Gender-Studies, Berlin 2008, 10.

[24] Es sind die mit dem Lesben- und Schwulenverband zusammen ausgearbeiteten, auch Lebensgefühle wiedergebenden Geschlechtsidentitäten: androgyner Mensch; androgyn; bigender; weiblich; Frau zu Mann (FzM); gender variabel; genderqueer; intersexuell (auch inter*); männlich; Mann zu Frau (MzF); weder noch; geschlechtslos; nicht-binär; weitere; Pangender; Pangeschlecht; trans; transweiblich; transmännlich; transmann; Transmensch; Transfrau; trans*; trans*weiblich; trans*männlich; Trans*Mann; Trans*Mensch; Trans*Frau; transfeminin; Transgender; transgender weiblich; transgender männlich; Transgender Mann; Transgender Mensch; Transgender Frau; transmaskulin; transsexuell; weiblich-transsexuell; männlich-transsexuell; transsexueller Mann; transsexuelle Person; transsexuelle Frau; Inter*; Inter*weiblich; Inter*männlich; Inter*Mann; Inter*Frau; Inter*Mensch; intergender; intergeschlechtlich; zweigeschlechtlich; Zwitter; Hermaphrodit; Two Spirit drittes Geschlecht (indianische Bezeichnung für zwei in einem Körper vereinte Seelen); Viertes Geschlecht; XY-Frau; Butch (maskuliner Typ in einer lesbischen Beziehung); Femme (femininer Typ in einer lesbischen Beziehung); Drag; Transvestit; Cross-Gender. (vgl. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/geschlechter-liste-alle-verschiedenen-geschlechter-und-gender-arten-bei-facebook-13135140.html).

[25] Facebook fügt denn ja auch zur Sicherheit noch ein weiteres Kästchen ein für „weitere“. Hier wird die Auflösung der Kategorie Identität zum Schutz der – individuellen – Identität für jeden wahrnehmbar auf die Spitze getrieben. Ich darf markieren, wer ich bin, und kreuze das Diffuse schlechthin an, das zu seiner Position allein die Negation der gegebenen anderen angeben kann.

[26] Einen postmodern-programmatischen, poststruktualistischen Hintergrund zeichnet nach: Antke Engel: Geschlecht und Sexualität. Jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hrsg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 2008, 330–346. – Zur Bedeutung für feministische Theologie vgl. Andrea Günter (Hrsg.): Feministische Theologie und postmodernes Denken. Zur theologischen Relevanz der Geschlechterdifferenz, Stuttgart/Berlin/Köln 1996.

[27] Birgit Kelle (Gendergaga. Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will, Asslar 2015, 42) berichtet unter Bezug auf das EKD-Frauenzentrum von 4 000 anerkannten Geschlechtern.

[28] Vgl. Deutscher Ethikrat (Hrsg.): Intersexualität. Stellungnahme, Berlin 2012; Bundesärztekammer (Hrsg.): Stellungnahme „Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD)“ 2015. (Dtsch Arztebl 2015; DOI: 10.3238/arztebl.2015.stn_dsd_baek_0); S2kLeitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung 7/2016.

[29] Die Veröffentlichungen zur Frage sind überschaubar. Vgl. neben Raedel (Hg.): Das Leben der Geschlechter, a. a. O. (Anm. 2), Gerhard Schreiber: Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften. Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven, Berlin/Boston 2016; ders. (Hrsg.) Das Geschlecht in mir. Neurowissenschaftliche, lebensweltliche und theologische Beiträge zu Transsexualität, Berlin/Boston 2019. Vgl. ThBeitr. 50. Jg. (2019), 481-484 die ausführlichen Rezensionen durch Thorsten Dietz.

[30] So selbst Raedel in seinen überaus behutsamen Abwägungen (Geschlechtsidentität, a. a. O. [Anm. 2], 134).

[31] Vgl. die Zusammenfassung der Befunde bei Heinzpeter Hempelmann: „Wir haben den Horizont weggewischt“. Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitspluralismus und christliches Wahrheitszeugnis, Wuppertal 2008, Kap. 7.

[32] Jaques Derrida: Guter Wille zur Macht (I). Drei Fragen an Hans-Georg-Gadamer, in: Philippe Forget (Hrsg.): Text und Interpretation, Paderborn 1984, 56–58; vgl. dazu: Josef Simon: Der gute Wille zum Verstehen und der gute Wille zur Macht. Bemerkungen zu einer „unwahrscheinlichen Debatte“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 12 (1987) H.3, 79–90.

[33] Vgl. exemplarisch die über jeden Verdacht erhabene EMMA, 2017 Heft: 1 , 78–81: Berliner Szene. Die Hetzfeministinnen. Das Zitat ebd. 78.

[34] Vgl. Emma(-Kollektiv): Szene in Berlin. Die Hetzfeministinnen, in: a. a. O. (Anm. 28).

[35] Droht uns die Sprachzensur? Nein, in: Die ZEIT Nr. 23 vom 29. Mai 2018.

[36] Vgl. Ulrich Greiner: Droht uns die Sprachzensur? Ja., in: Die ZEIT Nr. 23 vom 29. Mai 2018. Vgl. schon Hemut Glück: Eine kleine Sex-Grammatik, in: FAZ vom 1. 5. 2018.

[37] Philosophische Untersuchungen (1953), §43. W. von Humboldt spricht schon zuvor von einer Sprache als einer „Welt“. Vgl. u. a.: Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, in: ders.: Schriften zur Sprachphilosophie, Darmstadt 5. Aufl. 1979, 1–26 (Werke in 5 Bd.en; III).

[38] Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, §7.

[39] So bietet ja selbst der Duden schon Hilfen zum „richtigen“ Gendern an.

[40] So die Berliner Akademie der Künste, Sektion Literatur, in einer Erklärung von 2018. Zit.n. Roland Düker: Eins mit Sternchen. Gendergerechte Sprache, in: Die ZEIT Nr. 23, 2018.

[41] Vgl. Greiner: Droht uns die Sprachzensur, a. a. O. (Anm. 34 ).

[42] Emma: Berliner Szene, a. a. O. (Anm. 34).

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