Hat Jesus von Nazareth existiert?
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In seinem Artikel diskutiert Gustavsson die Hauptargumente für und gegen eine Existiert Jesu. Der Artikel ist dem Buch Kein Grund zur Skepsis von Stefan Gustavsson entnommen, das einen Überblick über die Glaubwürdigkeit der Evangelien liefert.
Die Frage nach der Existenz Jesu taucht erstmals am Ende des 18. Jahrhunderts auf; vorher wurde von allen als selbstverständlich angesehen, dass Jesus gelebt habe. In radikalen Kreisen in England und Frankreich verbreitete man die Idee, dass es Jesus nie gegeben habe. Allerdings ohne größeren Erfolg. Selbst ein so bekannter Kritiker des Christentums wie Voltaire meinte, dass Leugner der Existenz von Jesus nur zeigen, dass sie „einfallsreicher als gelehrt sind“.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts bekam diese Idee Unterstützung von dem deutschen Theologen Bruno Bauer. Er formuliert die grundlegenden Argumente gegen Jesu Existenz; drei Argumente, die seitdem immer wieder in unterschiedlichen Formen zum Einsatz kommen, wenn die Historizität von Jesus geleugnet wird. Bauer lehnt (1) den Wert des Neuen Testaments als Quelle ab, weist (2) auf das Fehlen von anderen zuverlässigen Quellen über Jesus hin und behauptet (3), dass der christliche Glaube nicht durch das Leben einer historischen Person entstanden sei, sondern durch Vermischung von bereits existierenden religiösen Ideen. Die Person Jesus sieht er als eine literarische Schöpfung des Evangelisten Markus, ganz analog, wie wir Huckleberry Finn als literarische Schöpfung von Mark Twain ansehen. Manche unserer Zeitgenossen sind Bauers Spur gefolgt, wie der Engländer George A. Wells und in Schweden Alvar Ellegård mit dem Buch Myten om Jesus [Der Jesus-Mythos] sowie Roger Viklund mit dem Buch Der Jesus, den es nie gegeben hat.
In der Wissenschaft allerdings hat Bauer kaum Anhänger. Man beachte, dass Wells Professor für Germanistik war, Ellegård für Anglistik und Viklund Techniker ist – keiner von ihnen hat akademische Erfahrung in Geschichtswissenschaft oder Theologie. Natürlich ist das an sich kein endgültiges Argument. Autoritäten können sich irren und Autodidakten Recht haben. Akademische Titel entscheiden nicht über wahr und unwahr. Aber es weckt doch ein gewisses Misstrauen, wenn eine Theorie den Großteil der wissenschaftlichen Welt gegen sich hat.
Unter den Althistorikern, die sich mit der Antike befassen, sowie unter neutestamentlichen Theologen zeigt sich ein anderes Bild. Ein paar Beispiele zeigen, wie bekannte Wissenschaftler in diesem Gebiet in der Zeit von 1950 bis heute zur Frage der Existenz von Jesus gedacht haben:
Rudolf Bultmann, evangelischer Theologe und Professor für Neues Testament, der für seine kritische Haltung zu den Evangelien weltberühmt wurde: „Zweifel daran, ob Jesus wirklich existierte, sind unbegründet und nicht wert, widerlegt zu werden. Kein vernünftiger Mensch kann bezweifeln, dass Jesus als Gründer hinter der historischen Bewegung steht, deren erste Phase von der ursprünglichen [christlichen] Gemeinschaft in Palästina dargestellt wird.“
Willi Marxsen, einflussreicher deutscher evangelischer Theologe für Neues Testament: „Meine Auffassung (und das ist eine Auffassung, die von allen seriösen Historikern geteilt wird) ist, dass die Theorie [dass Jesus nicht existierte] historisch nicht haltbar ist.“
Samuel Byrskog, heute Professor für Neues Testament an der Universität Lund: „Ich bin auch der Meinung (und kein ernstzunehmender Historiker ist anderer Meinung), dass diese Behauptung [Jesus habe nie gelebt] wissenschaftlich (historisch) unhaltbar ist. Sporadische Versuche werden sicherlich – auch in Schweden – unternommen, um das Zeugnis des Neuen Testaments für die tatsächliche Existenz von Jesus wegzuerklären, aber alle diese Ansätze lassen exegetische Einsicht vermissen und werden inzwischen immer seltener von Menschen mit ordentlicher exegetischer Ausbildung unternommen. Von den Wissenschaftlern mit den notwendigen Kenntnissen für exegetische Arbeit verneinen inzwischen nicht einmal die kritischsten, dass es Jesus gegeben hat.“
Robert Van Vorst, US-amerikanischer Professor für Neues Testament, der sich auf nichtbiblische Quellen über Jesus spezialisiert hat (2000): „Gegenwärtige neutestamentliche Forschung hat allgemein ihre Argumente [der Kritiker der Existenz von Jesus] als so schwach oder bizarr eingestuft, dass sie entweder zu Fußnoten degradiert oder komplett ignoriert wurden.“
Graham Stanton, Professor in Cambridge und renommierter Experte für die Evangelien (2002): „Heute akzeptieren fast alle Historiker, unabhängig davon, ob sie Christen sind oder nicht, dass Jesus existiert hat und die Evangelien viele wertvolle Hinweise dafür enthalten, die kritisch gewichtet und bewertet werden müssen. Sie sind im Allgemeinen darüber einig, dass wir viel mehr über Jesus von Nazareth wissen als von irgend einem religiösen Lehrer des Juden- oder Heidentums aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert, möglichweise mit Ausnahme von Paulus.“
Richard Burridge, Professor für Biblische Exegese am King’s College in London, Spezialist für das literarische Genre des Neuen Testaments (2004): „Manche behaupten, dass Jesus eine Erfindung der Kirche sei, dass es Jesus überhaupt nie gegeben habe. Ich muss sagen, dass ich keinen anerkannten Historiker kenne, der so etwas noch sagt.“
Der berühmte und anerkannte Theologe N. T. Wright: „Es ist ziemlich schwer zu sagen, wo genau man anfangen soll [die Frage zu beantworten, wie wir wissen können, dass Jesus existiert hat], da die Beweise für die Existenz von Jesus tatsächlich so massiv sind, dass ich als Historiker behaupten möchte, dass wir für Jesus quasi genauso gute Beweise haben wie für andere Personen der Antike … Die Beweise stimmen so gut mit dem überein, was wir vom Judentum in dieser Zeit wissen … dass ich kaum glaube, dass es einen Historiker heute gibt – ich selbst kenne jedenfalls keinen –, der daran zweifelt, dass es Jesus gegeben hat … Es ist überdeutlich, dass Jesus eine sehr sehr gut dokumentierte Person der realen Geschichte ist.“
Geza Vermes, jüdischer Historiker, Professor in Oxford und führende Autorität sowohl für die Schriftrollen vom Toten Meer als auch die Jesus-Forschung (2008): „Lassen sie es mich gerade heraus sagen, dass ich akzeptiere, dass Jesus eine wirkliche, historische Person war. Die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man seine Existenz verneint – was übrigens immer noch von einem kleinen, aber lauten Kreis rationalistischer ‚Dogmatiker‘ geschieht – sind meiner Ansicht nach weit größer als die, wenn man sie akzeptiert.“
Craig Evans, preisgekrönter kanadischer Professor für Neues Testament (2009): „Kein seriöser Historiker, sowohl religiös als auch nicht-religiös, bezweifelt, dass Jesus von Nazareth wirklich während des ersten Jahrhunderts lebte und unter der Aufsicht von Pontius Pilatus, dem Statthalter von Judäa und Samaria, hingerichtet wurde.“
Auf YouTube findet man ein Interview mit Bart Ehrman, einem herausragenden Religionswissenschaftler, der sich selbst beschreibt als „ein Agnostiker, der zum Atheismus neigt“. Er ist außerdem als ein provozierender Kritiker des christlichen Glaubens bekannt. Der Journalist geht davon aus, dass Ehrman daher auch ein Kritiker der Existenz von Jesus ist. Das Interview illustriert auf unterhaltsame Weise, was passiert, wenn populärwissenschaftliche Mythen über die Nichtexistenz von Jesus mit der historischen Forschung kollidieren. Denn Ehrman wiederholt immer wieder: „Sie müssen auf die Indizien schauen!“ Er stellt fest, dass wir mehr Belege für die Existenz Jesu haben als für die meisten anderen Menschen aus dieser Zeit.
Einige Jahre später gab Ehrman das Buch Did Jesus Exist? (Existierte Jesus?) heraus, das eine vernichtende Analyse und Kritik der Argumente gegen die Existenz von Jesus darstellt:
Jesus existierte, und die lautstarken Kritiker, die dies abstreiten, tun dies nicht, weil sie die Beweise mit der kühlen Betrachtungsweise eines Historikers untersucht hätten, sondern weil sie eine andere Agenda haben, der ihr Leugnen dient. Aus rein sachlichem Blickwinkel heraus hat es einen Jesus von Nazareth gegeben.
Eines der Argumente, die Ehrman hervorhebt, ist das persönliche Netzwerk des Paulus.
Man kann Teile von Paulus’ Leben rekonstruieren, da er in seinen Briefen biografische Informationen liefert und außerdem sein enger Mitarbeiter Lukas eine Anzahl dieser Reisen in seinem Werk der Apostelgeschichte beschrieb.
Im Galaterbrief, der im Allgemeinen als von Paulus geschrieben akzeptiert wird, liefert er Informationen über einige wichtige Ereignisse nach seiner Bekehrung zum christlichen Glauben. Paulus wurde Christ ein oder zwei Jahre nach der Hinrichtung von Jesus und er berichtet selbst von der darauffolgenden Zeit:
Erst drei Jahre später ging ich nach Jerusalem, um Kephas kennenzulernen. Fünfzehn Tage blieb ich bei ihm. Von den anderen Aposteln habe ich keinen gesehen – außer Jakobus, den Bruder des Herrn. Was ich euch hier schreibe, ist, bei Gott, nicht gelogen.
Wir befinden uns also in den 30er Jahren, vier oder fünf Jahre nach Jesu Hinrichtung. Bart Ehrman benennt die Menschen, die Paulus während seines Besuchs in Jerusalem traf, und erläutert ihren Stellenwert:
Kephas ist natürlich Petrus (s. Joh 1,42), Jesu nächster Jünger. Jakobus, so sagt Paulus, war der Bruder des Herrn. Diese zwei Personen kennenzulernen, ist ausgezeichnet, wenn du etwas über den historischen Jesus wissen willst. Ich wünschte selbst, ich würde sie kennen. [Kursiv durch Verfasser].
Paulus blieb zwei Wochen in Jerusalem und besprach sich mit Petrus und Jakobus. Vierzehn Jahre später kehrt er zurück und trifft dann auch Johannes, einen Jünger Jesu.
Es ist undenkbar, dass Paulus, der nur wenige Jahre vorher einer der erbittertsten Gegner des christlichen Glaubens gewesen war, aber jetzt die Seite gewechselt hatte, sich nicht für die Frage nach der Wahrheit interessiert haben sollte, als er zunächst Petrus und Jakobus und später auch Johannes getroffen hatte. Im Gegenteil – Paulus war von den eigenen Überzeugungen durchdrungen und bereit, für das, was er für wahr hielt, sehr weit zu gehen. Wie Ehrman schreibt: „Es ist einfach nicht glaubhaft, dass Paulus zwei Wochen mit den allernächsten Nachfolgern von Jesus verbracht hat und nichts über ihn gelernt hat – zum Beispiel, dass er gelebt hat.“
Ehrman fährt fort:
Können wir einem Augenzeugenbericht näherkommen als hier? Die Tatsache, dass Paulus den nächsten Jünger und den eigenen Bruder von Jesus gekannt hat, ist ein eindeutiger Stolperstein für die Behauptung, dass Jesus nie existiert hat.
Warum Jesus wirklich existiert hat
Robert Van Vorst nennt sieben Gründe, warum „die Frage nach der Nichtexistenz von Jesus als wissenschaftliche Frage inzwischen praktisch ausgestorben ist“. Es handelt sich um gravierende Fehler in der Beweisführung, etwa dass sich die Schlüsse nicht aus dem präsentierten Faktenmaterial ziehen lassen. Hier folgen Van Vorsts sieben Gründe:
Erstens hat das Argument aus dem Schweigen, also von der Abwesenheit bzw. dem Fehlen von Quellen her („argumentum ex silentio“) kein großes Gewicht in der historischen Forschung. Dass etwas komplett übergangen oder nur kurzgefasst wiedergegeben statt detailliert beschrieben wird, ist kein Argument dafür, dass es nie existiert hat. Das weitgehende Schweigen des Paulus über das Leben von Jesus ist kein Argument gegen die Existenz von Jesus. Das gleiche gilt für die begrenzten Informationen im nichtchristlichen Material.
Zweitens beruht die Mythentheorie auf einer Umdatierung der Evangelien, also dass Christen die Person Jesus erst nach dem ersten Jahrhundert außerhalb Israels erschaffen hätten. Aber dies stimmt nicht mit der Datierung der Evangelien überein, die vorher geschrieben wurden, und es erklärt nicht, wie sie eine so große Anzahl korrekter Details über das Leben im damaligen Israel enthalten können.
Drittens gehen die Schlüsse, die man aus einzelnen Problemen zieht, zu weit. Die Entwicklung der Evangelientradition und ihre historischen Schwierigkeiten sind in sich kein Beweis dafür, dass es Jesus nicht gegeben hat. Dass eine Tradition sich entwickelt oder verändert, heißt nicht, dass sie keinen historischen Kern enthält. Dass sie gewisse historische Schwierigkeiten aufweist, heißt nicht, dass sie nachträglich erfunden wurde.
Viertens ignoriert man, dass alle antiken Kritiker des Christentums von der Existenz von Jesus ausgingen. Es wäre ein offensichtlicher Kritikpunkt, wenn die Kirche, nachdem sie schon eine beträchtliche Zeit existiert hat, nachträglich Berichte über eine angeblich historische Person Jesus eingeführt hätte. Alle nichtchristlichen Quellen nehmen die Historizität von Jesus an.
Fünftens ist die Kritik des nichtchristlichen Materials unausgewogen, besonders in Bezug auf Tacitus und Josephus. Die Vertreter des Jesus-Mythos weisen auf allgemein bekannte, textkritische Probleme hin und ziehen dann den Schluss, dass diese Probleme den Wert der Texte als Quelle vollständig untergraben würden. Aber dabei übersieht man, dass es in der Forschung „einen starken Konsens darüber gibt, dass die Mehrzahl der Texte im Grunde glaubwürdig sind.“
Sechstens ist ihre Argumentation häufig von starken antireligiösen Motiven bestimmt, nicht von objektiven Gründen. Unter Wissenschaftlern hingegen wird die Existenz von Jesus quer durch alle religiösen und philosophischen Auffassungen hinweg akzeptiert – von Atheisten, Agnostikern und Gläubigen unterschiedlichster Couleur. Die These, dass Jesus existiert hat, ist nicht aus einem speziellen Glauben heraus motiviert, sondern gründet auf anerkannten geschichtswissenschaftlichen Kriterien.
Siebtens haben die Jesus-Skeptiker keine glaubwürdige Erklärung für die Entstehung des Christentums und des Glaubens an Jesus von Nazareth als historischer Person. Der Mythos-Theorie fehlt die historische Evidenz, weshalb sie die Wissenschaftler nicht überzeugen konnte.
Wie Van Vorst sagt: „Bibelwissenschaftler und klassische Historiker betrachten die Theorie prinzipiell als widerlegt.“ Oder wie einer von Schwedens anerkanntesten Historikern geschrieben hat:
Der Versuch, Jesus als historische Person abzulehnen, ist beinahe … in die Kategorie „moderne Verschwörungstheorien“ einzuordnen, gemeinsam mit der Idee, dass die CIA für das Attentat auf das World Trade Center verantwortlich sei und die NASA die Mondlandung gefaked habe. Wenn wir aber stattdessen die bewährte wissenschaftliche Methode „Ockhams Rasiermesser“ anwenden – die Erklärung ist vorzuziehen, die möglichst wenige zusätzliche Annahmen braucht –, dann wird deutlich: Es ist wahrscheinlicher, dass es Jesus gegeben hat, als dass es ihn nicht gegeben hat.