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Weltanschauungen
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Das naturalistische Verhängnis

Diskutieren Atheisten und Christen miteinander, ergibt sich oft eine typische Gegenüberstellung. Gläubige, nicht gewohnt zu argumentieren oder rationale Gründe für ihren Glauben überhaupt nur zu formulieren, flüchten sich in ein „ich glaube das einfach, weil das für mich nunmal wahr ist“, mit Logik müsse das überhaupt nichts zu tun haben.

Diese Haltung nennt man Fideismus, er weicht den wichtigen Fragen aus. Von Seiten der Atheisten zielt die Argumentationsstruktur nicht selten auf den Versuch ab, eine Kluft zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und religiösem Glauben zu behaupten, wobei letzterer als irrational gekennzeichnet wird. Theisten sind dann entweder ungebildet und einer schlüssigen Rechtfertigung ihres Glaubens nicht fähig oder böswillig intellektfeindlich. An dieser Stelle endet die Diskussion meistens oder gleitet in beidseitige Belehrungen aus überheblicher Besserwisserperspektive („eines Tages wirst du auch noch die Wahrheit erkennen“) oder gar Polemik ab.

Es gibt eine ganze Reihe von möglichen Gründen für die Ablehnung des Glaubens an Gott. Vom Thema dieses Textes noch ausgeschlossen ist eine indifferente Haltung, die die Frage nach Gott schlichtweg als unbeantwortbar offen lässt. Ein solcher Agnostizismus ist intellektuell redlich und möglich, nicht selten bleiben die selbstbezeichneten Agnostiker jedoch nicht bei der strikten Enthaltsamkeit bezüglich der Gottesfrage, sondern überschreiten unbesehen doch die Grenze zum Atheismus, indem sie unterstellen, jeder Versuch der Beantwortung zugunsten des Theismus müsse irrational sein.

Ein Großteil heutiger Atheisten jedoch begründet seine Position mit Hilfe des Gegensatzes zwischen Glauben und Wissen. Die übliche Herleitung lautet:
früher glaubten Menschen an Götter
heute haben wir die Naturwissenschaften
die Naturwissenschaften werden weiter so erfolgreich darin sein, die Welt zu erklären, dass Religion immer deutlicher als Ersatz für Erkenntnis offenbar und damit überflüssig wird.

Ein durchaus unfruchtbarer Verlauf der weiteren Diskussion wäre es nun, aufzuzeigen, was die Wissenschaft alles noch immer nicht erklären könne. Denn die viel wichtigere Frage ist die nach dem zu Grund liegenden Modell menschlicher Vernunft. Heutige Atheisten sind zu einem großen Teil Naturalisten, das heißt, sie halten die naturwissenschaftliche Beschreibung der Realität für die entweder einzig zuverlässige oder jedenfalls die verlässlichste, wenn es um die Beantwortung von Fragen geht. Die großen Erfolge der Naturwissenschaft scheinen ihnen auch Recht zu geben, sodass eine Ablehnung der naturalistischen Prämissen sich beinahe wie Fortschrittsfeindlichkeit ausnimmt. Verbunden wird dies zumeist auch mit der Meinung, die natürlich-physikalische Realität sei die letztendliche. Charakteristischer Weise fallen hier Ausdrücke wie „nichts weiter als“. Das moralische Verhalten des Menschen sei nichts weiter als ausgefeilter entwickeltes Herdenverhalten höherer Tiere. Das Leben sei nichts weiter als eine Funktion zufällig entstandener Proteinketten, der freie Wille nichts weiter als eine Funktion des Hirns und Gedanken nichts weiter als elektrostatische Impulse desselben. Auf das dahinter stehende Vernunftkonzept passt das vom amerikanischen Philosophen Richard Rorty geprägte Wort von der Vernunft als dem „Spiegel der Natur“. Die Naturwissenschaft zeichnet ein immer vollständigeres Bild von der Realität, sodass Glaube schließlich keinen Platz und keine Funktion mehr habe.

Das entsprechende Konzept von menschlicher Vernunft jedoch ist ein erstaunlich defizitäres und jenes von religiösem Glauben ein Strohmann. Zur Erklärung ein Beispiel. Ein Mensch betrachtet ein Blatt Papier, auf dem schwarze Linien, Punkte und Figuren zu sehen sind. Er fragt sich, ob sie wohl etwas zu bedeuten haben oder nicht. Religiöser Glaube ist nicht die Frage nach der chemischen Zusammensetzung der schwarzen Tinte, sondern die Frage nach der Bedeutung der Zeichen. Selbst eine lückenlose physikalische Beschreibung dessen, was hier zu sehen ist, genau welche Moleküle an genau welcher Stelle sitzen, bei wieviel Grad das Papier zu brennen beginnen und wie es auf Säure, Strahlung oder Druck reagieren würde, könnte die Frage nicht beantworten, was der Text bedeutet. Sie wäre dadurch noch nicht einmal berührt. Religiöser Glaube steht in keinem Gegensatz zur Naturwissenschaft, sondern er ist eine Deutung ihrer Ergebnisse.

Freilich erhebt sich schon hier leidenschaftlicher Protest aus atheistischem Lager. Das gewählte Beispiel suggeriere bereits, dass es einen Verfasser des Textes auf dem Papier gebe. So wie die Frage nach dem „Warum?“ des Universums erst die Notwendigkeit einer kausalen Erklärung für einen Raum konstruiere, von dem wir überhaupt nicht wissen können, ob es kausale Ursachen dort überhaupt gebe. Dieser Einwand ist nicht unberechtigt, steht jedoch in der akuten Gefahr, selbst eine „petitio principii“ zu begehen, die dem argumentativen Gegner vorgeworfen wird. Als „petitio principii“ bezeichnet man den logischen Fehlschluss, das, was durch eine Argumentation erst zu beweisen wäre, bereits als gegeben vorauszusetzen. Im gewählten Beispiel wird noch nicht automatisch vorausgesetzt, dass es tatsächlich einen Verfasser gibt, ja noch nicht einmal, dass es sich tatsächlich um Zeichen auf dem Papier handelt und nicht vielmehr um zufällig entstandene Stockflecken. Diese Möglichkeit jedoch von vornherein zu bestreiten, weil es dafür „keine Beweise“ gebe, ist nun tatsächlich eine zirkuläre Argumentation.

Entscheidend ist der Hinweis: falls es einen Verfasser des Briefes gibt, besteht dieser nicht aus Tinte. Er taucht nicht in der physikalischen Realität des fleckigen Papiers auf. Dort sucht man vergeblich nach ihm, kein Wunder, dass man ihn auch in den Zellstofffasern des Papiers nicht nachweisen kann. Die Frage nach ihm ist auch keine physikalische. Sie ist dennoch keine unsinnige. Tatsächlich nähern wir uns hier dem zentralen Problem des Naturalismus. Er behauptet etwas, was ein seriöser Naturwissenschaftler sich noch lange nicht anmaßen würde: dass rationale Erkenntnis außerhalb der Grenzen des naturwissenschaftlich Messbaren unmöglich sei. Tatsächlich sind wir im Leben als Mensch mit einer Unmenge von Fragen befasst, deren Beantwortung durch die naturwissenschaftliche Beschreibung noch nicht einmal wesentlich berührt werden.

Ein Kind fällt in den Brunnen. „Wie konnte das passieren?“, fragen Beistehende. „Gravitation!“, lautet die Antwort des reduktionistischen Naturalismus. Die Antwort ist nicht falsch, beantwortet die eigentlichen Fragen aber nicht. Denn diese Fragen wären solche nach der Bedeutung: war es ein Unfall? Gab es einen Schuldigen? Was hätte man tun können? Und solcher Art sind unendlich viele wichtige Fragen des Lebens, die wir dennoch definitiv beantworten. Ob es wirklich Unrecht ist, ein kleines Kind zu missbrauchen, was eine Demokratie ausmacht, ob ich diese Frau heiraten sollte, ob 1+1 wirklich 2 ergibt und ob ich mich umbringen sollte: keine dieser Fragen wird beantwortet durch eine vollständige Beschreibung des Zustandes aller Atome des Universums zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Tatsächlich ist noch nicht einmal die Frage, ob ein mathematischer Satz wahr ist, eine naturwissenschaftliche. Es sind all dies Fragen, die noch nicht durch die naturwissenschaftliche Beschreibung beantwortet werden, sondern die nach einer Deutung durch den menschlichen Geist verlangen. Und hier liegt das ganze Elend des Naturalismus begraben. „Ist eine vollständige Weltbeschreibung mit rein naturwissenschaftlichen Mitteln möglich?“ Wenn nein: „Sie haben soeben Ihren Materialismus aufgegeben.“ Wenn ja: „Genau diese Antwort selbst steht aber nicht mehr auf dem Boden der Naturwissenschaft.“ Es ist Eigenschaft des menschlichen Intellekts, eben nicht nur zu beschreiben, sondern zu deuten. Der Naturalismus ist bereits eine Deutung und zwar eine reduktionistische. Das Problem jedoch jeder reduktionistischen Argumentation ist, dass das Gesetz der Reduktion selbst nicht aus den gegebenen Daten hergeleitet werden kann. Es muss dogmatisch gesetzt werden. Dass die Naturwissenschaft die Welt vollständig beschreibt, ist selbst keine naturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern eine philosophische Entscheidung. Eine Entscheidung, die mit gutem Recht kritisiert werden kann. „Was bedeutet der Satz ‚ich hebe meinen Arm‘ anders als der Satz ‚mein Arm hebt sich‘?“, fragt schon Wittgenstein und die „Philosophy of the mind“ streitet mit ihren Gegnern seither unentwegt, ob sich geistige Entitäten (wie Personen) auf physikalische Gegebenheiten reduzieren lassen. Fest steht: es gibt überaus gewichtige Argumente gegen den Naturalismus, doch das gewichtigste ist wohl das, dass er selbst nur eine der möglichen philosophischen Perspektiven ist und sein oft erhobener Anspruch, Anwalt der reinen Vernunft zu sein, pure Ideologie ist. Am vielleicht überzeugendsten wurde der Naturalismus übrigens von Philosophen kritisiert, die deshalb selbst noch lange nicht Theisten wurden (Wittgenstein, Rorty, Putnam und jüngst Thomas Nagel). Im Laufe der Geschichte der Wissenschaftstheorie und philosophischen Erkenntnistheorie wurde jedoch im 20. Jahrhundert das Bild vom „Spiegel der Natur“ immer deutlicher demontiert, sodass es auf eigenartige Weise anachronistisch anmutet, wenn heutige Atheisten sich noch immer philosophischer Argumentationsweisen bedienen, die aus dem empiristischen Positivismus der 20er, 30er und 40er Jahre bekannt sind und seither zunehmend als überholt gelten. Mir ist persönlich kein Atheist bekannt, der es für einen guten Vorschlag hielte, die Entscheidung, wen er heiraten soll, ausschließlich nach biologischen oder genetischen Daten zu fällen. Oder das Klagen seines suizidalen Freundes über die Sinnlosigkeit seines Lebens mit dem Hinweis beantwortet, rein chemisch betrachtet bestünde er ohnehin überwiegend aus Kohlenstoff und Wasser. Für die Entscheidung, wen er heiraten soll, verlässt er sich auf andere Fakultäten seiner Person. Erstaunlicher Weise ist er der Meinung, dass die Frage nach dem Urgrund des Universums, dem Sinn von allem, Gut und Böse, Wahr und Falsch sich schon durch eine naturwissenschaftliche Beschreibung erübrigen würde. Und wenn es auch nur eine zukünftige wäre: eines Tages wird die Wissenschaft auch das beantworten können. Nun – die Frage ob die schwarzen Zeichen auf dem Papier eine Bedeutung haben und welche das sein könne, wird in aller Ewigkeit niemals durch auch noch so viele chemische und physikalische Analysen des Papiers beantwortet werden. Sie steht in einer anderen Kategorie von Erkenntnis. Der Verfasser ist selbst nicht in der Tinte, der Erfinder des Legosteine ist selbst kein Legostein und falls das Universum einen Ursprung, ein Ziel und einen Sinn hat, dann ist dieser Ursprung selbst weder Teil des Universums, noch innerhalb der Kategorien desselben beweisbar.

An dieser Stelle der Argumentation scheint die große Stunde der Agnostiker zu schlagen. Denn wenn es schlichtweg gar keinen Beweis gebe, dann sei alle weitere Frage auch reine Spekulation. Diesem Einwand jedoch muss man klar entgegentreten: unsere Vernunft ist durchaus fähig, Wahres auszusagen über das hinaus, was naturwissenschaftlich beweisbar ist. Oder viel präziser: die naturwissenschaftlichen Daten selbst sind stumm, aus ihnen eine Theorie oder ein Modell abzuleiten, ist immer bereits ein Akt der deutenden Vernunft. Je umfassender eine Theorie nun ist, desto mehr rückt sie vom eng naturwissenschaftlich Messbaren ab und wird zur Interpretation (wie Barbour, Black, Hick, Kuhn etc. deutlich zeigen konnten). Glaube und Wissen nähern sich an, je umfassender die Aussagen werden, die getroffen werden sollen. Tatsächlich bleibt die Vernunft, die sich weigert, nach einer Bedeutung zu fragen, unter ihrer Würde. Die Möglichkeit einer Bedeutung der schwarzen Konturen auf dem Papier nicht einmal in Betracht zu ziehen, ist geistiger Analphabetismus. Den Prager Fenstersturz nur in den Kategorien der Newton’schen Fallgesetze zu betrachten ist keine Ausgeburt intellektueller Nüchternheit, sondern eine Selbstbeschränkung, die an Ignoranz grenzt. Dass ein Chirurg im Operationssaal den Patienten primär unter anatomischen Gesichtspunkten betrachtet, ist Gebot seiner Disziplin. Als Mensch freilich wäre es verwunderlich, wenn er nicht in Betracht zöge, dass die rein anatomische Betrachtung („nichts weiter als Muskeln und Knochen“) nicht die ganze Wahrheit über diese Person beinhaltet. Es ist Eigenart und Größe des menschlichen Intellekts, immer nach mehr zu Fragen als nach den rein materiellen „Daten“.

Ob die Hoffnung, einen Verfasser hinter dem beschriebenen Papierstück zu finden, Irrlicht ist oder des Menschen bester Teil, darüber freilich darf gestritten werden. Das Staunen ist der Anfang der Philosophie, sagt Aristoteles, und es ist und bleibt auch der Anfang der Gottesfrage. Zumal wenn die Figuren auf dem Schriftstück unendlich komplex sind und dennoch einer inhärenten Ordnung zu entsprechen scheinen, wird auch bei einer noch so vollständigen naturwissenschaftlichen Beschreibung die Frage immer lauter tönen: gibt es eine Bedeutung hinter alle dem? Und einen Verfasser? Es wird für Menschen immer Gründe geben, den Glauben an Gott abzulehnen. Viele davon werden intellektuell redlich und manche gar logisch stringent sein. Die Behauptung, dass die Frage selbst der Grundlage entbehre oder eines Tages entbehren würde, ist jedoch keiner davon.

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