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Naturwissenschaften
Text 22 Min.

Ist das Gehirn eine Antenne für die göttliche Wirklichkeit oder bloß für Illusionen?

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Über neurobiologische Religionskritik, religiöses Erleben und Persingers Gotteshelm.

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Führende Vertreter des sogenannten „neuen Atheismus“, wie etwa Richard Dawkins, geben ihre Ansichten gerne als Resultat naturwissenschaftlicher Erkenntnis aus. Manche Anhänger dieser Bewegung geben aber immerhin zu, dass ihr Atheismus in der vor aller wissenschaftlichen Forschung liegenden metaphysischen Entscheidung gründet, dass es keinen Gott geben kann. Demnach baut weder der Gottesglaube noch der Atheismus primär auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auf. Diese Erkenntnisse werden aber dennoch überwiegend als „Beweis“ für den Atheismus ins Feld geführt. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Neurowissenschaften.

1. Neurophysiologie und Atheismus
Mit neuen Methoden funktioneller Bildgebung, den sogenannten Hirnscannern, ist es möglich, physiologische Prozesse im Gehirn abzubilden – auch solche, die bei seelisch-geistigen Vorgängen ablaufen, wie etwa beim Fühlen oder Denken. Solche Vorgänge sollen nur Produkte physiologischer Prozesse im Gehirn sein und sich in ihrer Bedeutung für das Leben auf biologisch relevante Zwecke, vor allem das biologische Überleben, reduzieren lassen. Die klassische Religionskritik (L. Feuerbach, S. Freud) soll so auf eine naturwissenschaftliche Basis gestellt werden. Nach ihr ist Religion bloß eine Projektion seelischer Bedürfnisse an einen fiktiven Himmel. An die Stelle der Seele tritt in der neurophysiologischen Religionskritik das von den Genen gesteuerte Gehirn als Produzent religiöser Erlebnisse. Diese seien dementsprechend nur genetisch bedingte Hirnprodukte, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet hätten, weil der Glaube an metaphysische Mächte früher geeignet war, gesellschaftliche Mächte zu sanktionieren. Dass es eine geistige Dimension des Lebens gibt, die nicht in biologischen Nutzenfunktionen aufgeht, wird aufgrund materialistischer Vorgaben bestritten. Diese Reduktion geistiger Phänomene auf biologische Prozesse lässt sich nicht nur auf religiöse Vorstellungen begrenzen. Sie trifft alle seelisch-geistigen Phänomene, also auch die Vorstellung, ein „Ich“, eine „Person“ zu sein, die ein gewisses Maß an Freiheit hat, so dass sie sich Ziele und ethische Normen setzen und diese durch ihr Entscheiden, Wollen und Handeln in die Tat umsetzen kann.

2. Geist und Materie: Wer bestimmt wen?
Die abendländische Tradition ist geprägt durch die Unterscheidung von Geist und Materie bzw. Schöpfer und Schöpfung und die Vorstellung, dass das materielle Sein im geistigen Sein gründet und von ihm gelenkt wird. Diese Metaphysik wird durch den Materialismus (= Naturalismus) bestritten. Diesem Naturalismus zufolge sind geistig-kulturelle Phänomene lediglich Begleiterscheinungen materieller Prozesse, mithin ganz den Gesetzmäßigkeiten der Materie unterworfen. Die Vorstellung, der Mensch sei ein „Ich“, das wahrnimmt, fühlt, denkt, entscheidet, handelt, ist demnach eine Illusion, denn auf ein solches „Ich“ stößt man bei den empirischen Beobachtungen nicht, sondern nur auf hirnphysiologische Prozesse. Nicht das „Ich“ hat ein Gehirn, sondern das Gehirn erzeugt die Illusion von einem „Ich“. Also entspricht den Inhalten subjektiven Erlebens letztlich keine Wirklichkeit außerhalb des Gehirns.


Vielleicht wird mancher, der die religionskritische Verwendung neurophysiologischer Erkenntnisse bejaht, nachdenklich werden, wenn er bedenkt, dass er damit zugleich akzeptieren muss, dass es ihn als Subjekt (Ich, Person) überhaupt nicht gibt, sein „Ich-Bewusstsein“ also nichts anderes als ein illusionäres Produkt seines Gehirns ist. Eine Beschränkung dieser reduktionistischen Deutung seelisch-geistiger Phänomene auf religiöses Erleben ist nämlich nicht möglich. Wenn seelisch-geistige Phänomene nur Produkte genetischer und neurophysiologischer Prozesse sind, dann steht nicht nur unser Gottesbild, sondern auch unser bisheriges Menschenbild und vieles andere zur Diskussion. Es geht letztlich um die alles entscheidende Frage: Gibt es eine geistige Wirklichkeit, die gegenüber der materiellen Welt eine seinsmäßige Eigenständigkeit hat und ohne die das materielle Dasein überhaupt nicht sein kann? Oder erschaffen und regieren die Welt und das Leben in ihr sich selbst, ohne dass irgendeine geistige oder göttliche Macht in ihr schöpferisch wirksam ist? Von dieser ontologischen Frage ist die erkenntnistheoretische Frage zu unterscheiden, wie diese geistige Wirklichkeit wahrgenommen werden kann. Wenn wir davon ausgehen, dass geistiges Sein sich in dieser irdischen Welt vielleicht nur mittels körperlichem Dasein zeigen kann, so ist es selbstverständlich, dass seelisch-geistige und damit auch religiöse Erlebnisse nur im Medium körperlicher Phänomene erscheinen können. Damit ist aber nicht behauptet, dass solche Erlebnisse allein vonphysiologischen Prozessen „produziert“ und deshalb auch auf sie reduziert werden können.


Die neurowissenschaftliche Leitidee, dass seelisch-geistige Phänomene ohne die zugrundeliegenden Hirnprozesse nicht existieren können, kann dann auch nur bedeuten, dass sie in der empirischen Welt nur in Erscheinung treten können soweit sie von neurophysiologischen Funktionen begleitet sind nicht aber, dass sie allein durch neurophysiologische Prozesse erzeugt werden und mit ihnen identisch sind! Natürlich kann man Gefühle wie die Liebe auch mittels physikalischer (z. B. Optischer) und chemischer Mittel technisch erzeugen, ohne dass es der Liebesbeziehung zweier Menschen bedarf. Das käme einer Reduktion der „Liebe“ auf die physischen Bedingungen ihrer Möglichkeit gleich und wäre gleichbedeutend mit dem Verlust dessen, was Liebe in einer personalen Beziehung zweier Menschen bedeutet und wie sie von ihnen erlebt wird.


Für ein Erleben von Liebe ist primär eine Beziehung von sich liebenden Personen konstitutiv, in der die Liebe entsteht und erlebt wird, auch wenn sie sich mittels Elektrophysiologie, Biochemie u. a. Als eine das Leben bestimmende Wirklichkeit realisiert. Deshalb ist sie noch nicht zugleich ein bloßes Produkt solcher Prozesse – also auch nicht mit ihnen identisch. Dass meine Frau mich liebt, kann ich nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden beweisen, sondern nur dadurch, dass ich in einer personalen Beziehung ihre Liebe subjektiv erlebe. Das lässt sich auch am Beispiel vom tauben Neurowissenschaftler verdeutlichen, der alles über die Physik des Hörens, das Funktionieren von Musikinstrumenten usw. weiß, aber noch nie eine Kantate Bachs gehört hat. Wenn er eines Tages hören könnte und man ihn dann fragen würde, was all sein naturwissenschaftliches Wissen zum Erleben einer Sinfonie Beethovens beitragen kann, dann wird er wahrscheinlich antworten: wenig oder nichts. Das ästhetische Erlebnis von Musik kann man – wie das personale Erlebnis der Liebe nicht durch eine objektive Erklärung der naturwissenschaftlichen Bedingungen des Hörens von Musik erzeugen, sondern nur indem man die Musik hört und von ihr angesprochen wird.

3. Religiöses Erleben und Neurophysiologie
Einige Wissenschaftler vertreten die These: Wenn sich im Gehirn Strukturen aufzeigen lassen, in denen sich religiöse Erlebnisse physiologisch widerspiegeln, dann sei es wahrscheinlich, dass das Gehirn offen, gleichsam ein Empfänger ist für religiös-transzendente Wirklichkeiten außerhalb des Gehirns. Der Mensch sei nicht nur auf das physische Überleben in dieser irdischen Welt ausgerichtet, sondern die Biologie des Gehirns sei offen für eine transzendente Wirklichkeit, die es außerhalb des Gehirns auch gebe. Die Autoren rütteln damit an der Erkenntniskritik des Philosophen Immanuel Kant, nach der unser Erkenntnisvermögen die Grenzen von Raum und Zeit nicht überschreiten, es daher keine Erfahrungen transzendenter Wirklichkeiten geben kann. Die erwähnten Neurowissenschaftler behaupten nicht, dass die physiologischen Korrelate von religiösen Erlebnissen ein empirischer Beweis für die Existenz einer religiöstranszendenten Wirklichkeit sind. Sie gehen jedoch davon aus, dass es eine geistig eigenständige irdische Wirklichkeit gibt, die eine religiös-transzendente Wirklichkeit wahrnehmen kann. Die Biologie des Gehirns sei gleichsam ein Empfangsorgan für sie. Die wahrscheinlichste Erklärung für diese Offenheit des Gehirns sei, dass es diese Wirklichkeit auch außerhalb des Gehirns gibt, denn sonst hätte sich diese Fähigkeit in der Evolution nicht entwickelt. Das Gehirn habe gleichsam Antennen für diese Wirklichkeit.


Andere Neurowissenschaftler deuten solche religiösen Phänomene ausschließlich als Illusionen, die das Gehirn aufgrund mehr oder weniger pathologischer Vorgänge erzeuge und die auch durch chemische Mittel oder besondere Atem- und Entspannungstechniken und anderes produziert werden können. Dies sei ein Beweis dafür, dass solche Erlebnisse Produkte biologischer Vorgänge seien und dass ihnen keine Wirklichkeit außerhalb des Gehirns entspreche. Es könne allenfalls gefragt werden, welchen Nutzwert solche fiktiven Erlebnisse für Menschen haben. Die bisherigen Ausführungen leiten zu folgenden Erkenntnissen: Nicht die empirischen Beobachtungen der Neurophysiologie sind umstritten, sondern die Deutungen, die die Beobachter selbst diesen geben. Sie hängen primär von weltanschaulichen Vorgaben ab, die sich überwiegend nicht aus den Beobachtungen selbst ergeben.


Sie werden daher je nach weltanschaulichen Voraussetzungen religionskritisch oder die Religionen unterstützend gedeutet. Ob sich in den neurophysiologischen Vorgängen bei religiösen Erlebnissen eine eigenständige geistige Wirklichkeit kundtut und welcher Art sie ist, darüber kann allein aufgrund neurophysiologischer Beobachtungen keine Aussage gemacht werden. Daher sagt die Tatsache, dass religiöse Erlebnisse sich auch „künstlich“ induzieren lassen, noch nichts Entscheidendes über die Wirklichkeit und Bedeutung ihrer Inhalte aus.

4. Neurobiologie und das Verstehen religiösen Erlebens
Religiöse Erlebnisse sind subjektiver Art. Sie bedürfen der Deutung auf dem Hintergrund der im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen, damit sie sinnvoll in die Lebensbiographie eingeordnet und so in ihrer Bedeutung verstanden werden können.


Erst dadurch wird aus einem subjektiven Erlebnis eine verstandene Erfahrung. Verdeutlichen wir uns das an den elektromagnetischen Stimulationen des Gehirns, die der Neuropsychologe M. A. Persinger durchführte. Er will so religiöse Erlebnisse induziert haben und schloss daraus, dass alle religiösen Erlebnisse „Hirnprodukte“ pathologischer Art seien. Aber allein die Tatsache, dass einige seiner Probanden Gottes- und Christusvisionen andere aber z. B. Visionen von Außerirdischen auf Ufos hatten, zeigt an, dass bei gleicher Stimulation inhaltlich grundsätzlich Verschiedenes erlebt werden kann. Entscheidend für die Deutung des Erlebten ist also das, was im Gedächtnis bereits als Inhalt gespeichert ist. Das Beispiel macht deutlich, dass sich die Bedeutungen subjektiven Erlebens nicht aus den neurophysiologischen Vorgängen direkt ableiten lassen.

Vielmehr stellen diese Bedeutungen den neurophysiologischen Vorgängen gegenüber eine kategorial verschiedene Ebene dar, denn der Informationsgehalt und damit die Bedeutung eines neurophysiologisch beobachtbaren Geschehens ist nicht mit dem Träger der Information, der Biochemie und Elektrophysiologie identisch (vgl. 2. zur „Liebe“). Inhalt und Bedeutung subjektiven Erlebens lassen sich nicht durch einen neutralen Beobachter aus physiologischen „Erregungszuständen“ ermitteln, sondern nur dadurch, dass das erlebende Subjekt seine Erlebnisse zu verstehen und sie daraufhin anderen Menschen mitzuteilen vermag. Es bedarf dazu also in der Regel der Sprache.


Aus den bisherigen Darlegungen entsteht der Eindruck, dass die Neurobiologie fast nur kritische Beiträge zum Verstehen religiöser Phänomene beiträgt. Die neuen Methoden bildgebender Verfahren geben aber nicht nur Auskunft darüber, welche verschiedenen Regionen des Gehirns bei unterschiedlichen Formen religiösen Erlebens beteiligt sind, sondern auch über die Intensität und Tiefe religiösen Erlebens, die mit unterschiedlich starken Hirnaktivitäten zusammenhängen können, aber nicht müssen. Diese Erkenntnisse machen vor allem auf die Bedeutung der Gefühle für unser ganzes Leben aufmerksam. Die Prägekraft religiösen wie jeden anderen Erlebens hängt stark von seiner Besetzung mit Gefühlen ab. Die Neurobiologie ruft uns also wieder ins Bewusstsein, dass gelebte Religion und christlicher Glaube nicht ohne Gefühle sein können, wenn Glaube ein lebendiger Glaube werden soll, der zu einem entsprechenden Sollen, Wollen und Handeln motiviert.


Sicher ist eine Konzentration auf das religiöse Subjekt mit seinen Gefühlen nicht ohne Probleme. Gefühle können, wie auch Verstand und Denken, irren und manipuliert werden. Diese Ambivalenz darf aber nicht zu der Behauptung führen, dass eine Gewissheit im Glauben überhaupt nicht mit Gefühlen im Zusammenhang stehe. Auch religiöse Erlebnisse verdanken ihre subjektive Evidenz stark der emotionalen Besetzung. Ohne sie gerät der Glaube schnell zu einem bloß kognitiven Akt, zu einem „Für-wahr-halten“ von Glaubenssätzen oder zum moralischen Appell, zur leeren Begriffssprache ohne Erfahrungsinhalt. Auch dem gläubigen Menschen, der z. B. Durch eine Depression von seinen Gefühlen abgeschnitten ist, kann die Erfahrung des lebendigen Gottes zum bloß abstrakten Begriff zerrinnen, so dass Gott als abwesend oder gar als tot erscheint, seine heilsame Nähe also nicht mehr erlebt wird (vgl. z. B. Psalm 42; 77). Auch Theologie kann so zum bloßen Denkprodukt ohne existentielle Bedeutung werden. Man beschreibt dann religiöse Phänomene oder entwirft ein logisches System der Theologie. Doch die Wirklichkeit, von der der Glaube spricht, bleibt so letztlich verborgen. Es ist wie bei dem tauben Neurowissenschaftler, der alles über die Physik und die Physiologie des Hörens von Musik weiß, aber das Eigentliche der Musik nie erlebt hat. Auch für die Wahrnehmung der Gefühle und ihre Bedeutung gilt, dass der Graben zwischen der Physiologie einer seelisch-geistigen Erfahrung einerseits und ihrer subjektiven Wahrnehmung und Bedeutung andererseits nicht dadurch überwunden werden kann, dass man die Erfahrungen auf ihre biologischen Bedingungen und Funktionen reduziert und alles andere als belanglose subjektive Illusionen abtut.

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