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Weltanschauungen
Text 35 Min.

Glaube und Kultur

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Nach den beiden Weltkriegen war der Kulturoptimismus der Moderne verflogen, man nahm ihre Konzepte vielfach als gescheitert wahr. Impulse aus der Wissenschaft stellten zudem den Denkrahmen des Naiven Realismus in Frage und führten schließlich zu der Überzeugung, dass alle Erkenntnis relativ ist und in Abhängigkeit von der Perspektive des Betrachters gesehen werden muss. Lyotard (1979) sprach als erster von einer neuen Epoche, der sog. Postmoderne, die vor allem dadurch gekennzeichnet sei, dass sie keine Metanarrative mehr habe. Die Gesellschaften des Westens erfuhren nun einen umfassenden Wandel, der vor allem auf einer tiefen Enttäuschung von der Moderne mit ihren Ansprüchen und Werten beruhte und vielfach als „stille Revolution“ bezeichnet wird. Dabei zeichnen sich folgende Leitmotive der Postmoderne ab:

Relativismus und Toleranz:
Der neue Denkrahmen geht von der Relativität jeder Erkenntnis in Abhängigkeit von der Perspektive des Beobachters aus. Verschiedene Erkenntnisse stehen also gleich gültig nebeneinander und eine geradezu intolerante Toleranz wird zum wichtigen Wert.

Dekonstruktion und Rekonstruktion:
Viele kulturelle Werte und Praktiken der Moderne werden aus einer Perspektive des Misstrauens bewertet, verabschiedet und durch Neues ersetzt.

Entdifferenzierung und Pastichebildung:
Bewusst werden die scharfen Kategorien der Moderne verwischt, und es wird zum kreativen Prinzip, früher unvereinbare Stile in Mode, Musik und vielen Kulturbereichen zu vermischen.
Auch Rollenbilder, Umgangsformen und Beziehungen sind davon betroffen.

Selbst in gedanklichen Konzepten werden spezifische Grenzziehungen infrage gestellt und man gelangt vom „Entweder-Oder“ zum „Sowohl-als-Auch“. Auch das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Darstellung wird verwischt und es kommt vielfach zu einer Verschiebung vom Sein zum Schein. Ambivalentes wird begrüßt, man spielt mit Mehrdeutigkeiten und toleriert Spannungen. M. Vester (1993) bezeichnet diese Entwicklung treffend als umfassende „Attacke auf das modernistische Reinheitsgebot“.

Entthronung des Verstandes:
Es kommt zur bewussten Entthronung des Verstandes als einziger Erkenntnisquelle. Erfahrung und Intuition gewinnen an Bedeutung, das „Herz“ wird zum zentralen Erkenntnisorgan.

Ganzheitlicher, synthetischer, kontextbezogener Denkstil:
Die Menschen der Postmoderne distanzieren sich auch vom abstrakt-analytischen Denkstil und bevorzugen ein synthetisches, relationales und vermehrt intuitives Denken und Lernen, das vor allem durch Geschichten, Bilder und Sinneserfahrungen geschieht. T. Künkel (2007) rückt die neue Art des ganzheitlichen Denkens in die Nähe des hebräischen Denkens und der biblischen Tradition des „weisheitlichen Denkens“.

„Wiederverzauberung der Welt“:
Mit der Entthronung der Vernunft ist ein neues Sehnen nach Geheimnisvollem, spirituellen Erfahrungen und Kontakt mit der unsichtbaren Welt erwacht. Die Erfüllung dieser Sehnsüchte erwartet man allerdings nicht vom christlichen Glauben, sondern vor allem von den Angeboten der Esoterik, die eine große Faszination auf den postmodernen Menschen ausüben, und nun in das geistliche Vakuum eindringen, das die Moderne hinterließ.

Dezentrierung und Anti-Heroismus:
Während an der Spitze moderner Strukturen meist ein handelndes Subjekt stand, wird Macht in der Postmoderne dezentriert, polyzentrische Netzwerke entstehen. Auch heroische Welt- und Selbstbilder werden verworfen und durch das Bild des ironischen Schelms ersetzt.
Die entstehende postmoderne Gesellschaft setzt diese Leitmotive um und steht zugleich unter noch unvorhersehbaren Einflüssen der Globalisierung und der sich rasch entwickelnden Kommunikationstechnologie.

Auch viele Züge der Moderne prägen sie noch. Naturgemäß muss damit gerechnet werden, dass alle diese Kulturveränderungen auch Verständnis und Ausdruck des christlichen Glaubens in der westlichen Welt herausfordern. Wenn wir die Menschen der Postmoderne mit dem Evangelium erreichen wollen und sie im christlichen Glauben ein Zuhause finden sollen, werden wir uns in den nächsten Jahren weiterhin intensiv mit dem Verhältnis zwischen Kultur und Glauben befassen müssen.

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